Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
auf den Tannenbaum freuen sollte. Ich nahm mir aber vor, mich zusammenzureißen und Freude über die Geschenke zu zeigen. Ich freute mich dann echt über die Geschenke. Ich hatte noch nie so viel zu Weihnachten geschenkt bekommen. Irgendwann erwischte ich mich aber dabei, wie ich überschlug, was das alles gekostet hatte, und das dann in halbe Halbe umrechnete.
Mein Vater kam auch über Weihnachten. Ihn hielt es wie immer nicht lange zu Hause. Er ging mit mir an beiden Weihnachtstagen abends in eine Teenie-Popper-Diskothek. Ich habe jedes Mal sechs oder sieben Cola-Rum in mich reingeknallt und bin dann auf dem Barhocker eingepennt. Mein Vater war ganz selig, dass ich jetzt Alkohol soff. Und ich habe mir schon gesagt: Irgendwann wirst du dich an die Dorfteenies hier gewöhnen und auch an den Discosound.
Am nächsten Tag flog mein Vater zurück nach Berlin, weil da abends ein Eishockeyspiel war. Mein Vater war inzwischen ein Eishockeyfan geworden.
Nach den Weihnachtsferien musste ich dann zur Schule. Ich kam in die neunte Klasse der Realschule. Ich hatte zunächst Angst vor der Schule. Ich hatte ja drei Jahre praktisch nicht am Schulunterricht teilgenommen. Im letzten Jahr war ich überhaupt nur noch ein paar Monate hingegangen, weil ich die andere Zeit krank oder gerade mal wieder auf Entzug war oder geschwänzt hatte. Mir gefiel es aber gleich am ersten Tag ganz gut in der Schule. Die Klasse malte gerade ein Bild auf eine öde weiße Wand im Klassenzimmer. Ich durfte sofort mitmachen. Wir malten schöne alte Häuser. Genau die Häuser, in denen meine Traumwohnung einmal sein sollte. Davor waren nur fröhliche Menschen. Auf der Straße stand noch eine Palme, an die ein Kamel gebunden war. Ein total starkes Bild. Darüber schrieben wir: »Unter dem Asphalt liegt der Strand.«
Im Jugendclub entdeckte ich dann ein ganz ähnliches Bild. Da stand nur ein anderer Spruch drunter: »Nicht jammern und picheln, sondern Hammern und Sicheln.« Im Jugendclub gaben die politisch Interessierten den Ton an.
Ich merkte schnell, dass die Jugendlichen vom Land und aus der Kleinstadt, die in der Nähe von unserem Dorf war, auch nicht sehr zufrieden waren. Auch wenn äußerlich vieles anders war als in Berlin. In der Schule war längst nicht so viel Krawall. Die meisten Lehrer konnten sich noch durchsetzen. Die meisten Jugendlichen zogen sich auch noch sehr brav an.
Ich wollte die Schule schaffen, obwohl mir ziemlich viel fehlte. Ich wollte das unbedingt bringen, wenigstens den Realschulabschluss. Ich machte zum ersten Mal seit der Grundschulzeit Schularbeiten. Nach drei Wochen hatte ich mich schon ganz gut in der Klasse eingelebt und bekam das Gefühl, dass ich es echt packen könnte.
Wir hatten dann gerade Kochkurs, da wurde ich zum Rektor gerufen. Der saß hinter seinem Schreibtisch und fummelte ganz nervös in einem Schnellhefter rum. Ich peilte ganz schnell, dass der Schnellhefter meine Akte war, die sie wohl gerade aus Berlin geschickt hatten. Und ich wusste, dass in dieser Akte alles über mich drin war. Das Jugendamt hatte irgendwann meine Schule in Berlin voll informiert.
Der Rektor hüstelte erst noch ein bisschen rum und dann sagte er, dass er mich zu seinem Bedauern nicht auf der Schule behalten könne. Ich würde den Anforderungen einer Realschule nicht gerecht. Den Typen muss meine Akte so aufgeregt haben, dass er mich direkt aus dem Unterricht holen ließ. Der hatte nicht mal bis nach Schulschluss warten können, um mich aus seiner Realschule zu feuern.
Ich sagte gar nichts, weil ich nicht sprechen konnte. Der Rektor wollte mich sofort weghaben. Schon in der nächsten Pause sollte ich mich beim Rektor der Hauptschule melden. Ich war total fertig. Ich ging wie besinnungslos rüber zur Hauptschule. Und als ich dann da beim Hauptschulrektor war, habe ich nur noch losgeheult. Der meinte, das sei doch alles gar nicht so schlimm. Ich solle mich auf den Hosenboden setzen und einen guten Hauptschulabschluss machen.
Als ich draußen war, habe ich dann endlich mal wieder Bilanz gemacht. Ich hatte eigentlich kein Mitleid mit mir. Ich habe mir gesagt: »Das ist doch ganz klar, dass du jetzt Rechnungen vorgeknallt bekommst für das, was du gemacht hast.« Ich habe auf einmal gecheckt, dass all die Träume vom ganz neuen Leben ohne H dummes Zeug waren. Dass die anderen mich nicht so sahen, wie ich gerade zu sein glaubte, sondern dass sie mich nach meiner Vergangenheit beurteilten. Meine Mutter, meine Tante und eben der
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