Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo

Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo

Titel: Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane F.
Vom Netzwerk:
erst dreißig war, ganz gut quatschen konnte. Nicht über die Probleme, die ich wirklich hatte. Aber über die wollte ich auch nicht reden, an die wollte ich gar nicht denken. Mein echtes Problem hieß nämlich H. Dope und alles, was damit zusammenhing. Detlef, Szene, Kudamm, breit sein, nicht denken müssen, frei sein. Ich versuchte, auch ohne H nicht zu viel zu denken. Alles, was ich dachte, war eigentlich, dass ich bald abhauen würde. Aber im Gegensatz zu früher machte ich nie einen richtigen Plan zum Abhauen. Ich schob das vor mir her. Ich dachte: Eines Tages haust du ab. Ich wollte wahrscheinlich nicht echt abhauen, weil ich Angst hatte vor dem, was ich die letzten zwei Jahre als Freiheit verstanden hatte.
    Meine Tante zwängte mich total in Verbote ein. Ich musste mit meinen fünfzehn Jahren pünktlich um halb zehn zu Hause sein, wenn ich überhaupt wegdurfte. Das kannte ich seit meinem zwölften Lebensjahr nicht mehr. Mich nervten diese Verbote wahnsinnig. Aber komischerweise hielt ich sie fast immer ein.
    Vor Weihnachten sind wir nach Hamburg gefahren, um Weihnachtseinkäufe zu machen. Das ging schon morgens los. Rein in die Kaufhäuser. Es war der totale Horror. Stunden sich durch diese elenden Massen von Spießern zu drängeln, die überall nach Sachen grapschen und in ihren dicken Brieftaschen wühlen. Meine Oma und meine Tante, mein Onkel und mein Cousin zogen sich Plünnen an und wieder aus. Für Tante Hedwig und Tante Ida und für Jochen und für Herrn und Frau sowieso fanden sie überhaupt kein Geschenk. Und mein Onkel brauchte noch ein paar Schuhsohlen zum Selberbesohlen und für das Auto auch noch was, was in den Kaufhäusern billiger ist.
    Meine Oma ist so klein und wieselt in Kaufhäusern so rum, dass sie ständig in den Menschentrauben verschwunden war. Dann ging das Gesuche los. Manchmal hatte ich alle verloren und dann dachte ich natürlich ans Abhauen. Ich hatte gleich gecheckt, dass in Hamburg an der Mönckebergstraße eine Szene ist. Ich hätte nur rauszulaufen brauchen aus einem Kaufhaus und ein paar Fixertypen anquatschen können und dann wäre alles schon weitergelaufen. Aber das brachte ich irgendwie nicht. Weil ich gar nicht genau wusste, was ich wollte. Obwohl ich mir gesagt habe: »Bevor du wirst wie die und nur noch auf Kaufen und Kaufhäuser abfährst, verreckst du lieber auf irgendeiner Toilette.« Ich glaube, wenn ein Fixer gekommen wäre und hätte mich angequatscht, dann wäre ich weg gewesen.
    Aber eigentlich wollte ich eben nicht weg. Und deshalb habe ich meinen Leuten ein paar Mal gesagt: »Ich bring das nicht mehr. Bitte fahrt jetzt nach Haus und dann geht ihr noch mal ohne mich einkaufen.« Da haben die mich echt angeguckt, als sei ich eine Verrückte. Denn für sie ist wahrscheinlich der Weihnachtseinkauf der Höhepunkt des Jahres.
    Abends fanden sie dann das Auto nicht wieder. Wir rannten von Parkdeck zu Parkdeck und fanden das Auto nicht. Das fand ich irgendwie eine ganz gute Situation. Weil wir plötzlich eine Gemeinschaft waren. Wir redeten durcheinander, jeder hatte andere Ratschläge, aber wir hatten endlich mal alle ein gemeinsames Ziel: Wir wollten das verdammte Auto wiederfinden. Ich unterschied mich von den anderen nur dadurch, dass ich das Ganze sehr komisch fand und immer lachen musste, während die anderen immer mehr in Panik gerieten. Es war mittlerweile ziemlich kalt und alle bibberten. Nur mir machte Kälte nicht viel aus, weil mein Körper ja ganz andere Sachen gewöhnt war.
    Meine Tante stand schließlich im Eingang von Karstadt unter dem Warmluftpuster und wollte keinen Schritt mehr weitergehen. Mein Onkel musste sie mit Gewalt unter der warmen Luftdusche vorziehen. Dann haben wir das Auto doch noch gefunden, und alle haben gelacht. Auf der Nachhausefahrt fühlte ich mich ganz wohl. Ich fühlte mich wie in einer Familie, zu der ich doch irgendwie gehörte.
    Ich passte mich ein bisschen an. Ich versuchte das jedenfalls. Es war schwierig. Ich musste bei jedem Satz unheimlich genau aufpassen, was ich sagte. Bei jedem Wort. Wenn mir das Wort »Scheiße« rausrutschte, sagte meine Oma gleich: »So ein schönes Kind und so ein hässliches Wort.« Dann entspann sich womöglich noch eine Diskussion, weil ich mich angenervt fühlte. Und zum Schluss rastete ich aus.
    Weihnachten kam. Der erste Heiligabend seit zwei Jahren, den ich wieder unter einem Tannenbaum feierte. Die letzten beiden Heiligabende war ich auf der Szene gewesen. Ich wusste nicht, ob ich mich

Weitere Kostenlose Bücher