Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
Rektor.
Mir wurde auch klar, dass ich nicht von heute auf morgen ein anderer Mensch werden konnte. Mein Körper und meine Psyche kamen auch mit immer neuen Rechnungen. Meine kaputte Leber erinnerte mich ständig daran, was ich mit ihr angestellt hatte. Und es war eben auch nicht so, dass ich das Leben bei meiner Tante auf einmal ganz cool packte. Ich rastete bei den geringsten Kleinigkeiten aus. Ständig gab es irgendwelchen Krach. Ich hielt keinen Stress und keine Hektik aus. Und wenn ich dann mal wieder echt in einem Tief war, fiel mir ein, dass ich mich mit Drogen da ganz einfach wieder rausgebracht hätte.
Nach dem Rausschmiss aus der Realschule traute ich mir nicht mehr zu, was zu leisten. Ich war wieder ziemlich willenlos. Ich konnte mich nicht gegen den Rausschmiss wehren, obwohl dieser Rektor nach drei Wochen natürlich überhaupt keinen Überblick hatte, ob ich das geschafft hätte. Ich hatte keine Zukunftspläne mehr. Ich hätte wieder zur Gesamtschule gehen können. Da gab es eine, die mit dem Autobus zu erreichen war. Auf der Gesamtschule hätte ich dann beweisen können, was ich auf dem Kasten hatte. Aber meine Angst war zu groß, dass ich da auch versagen könnte.
Was es bedeutete, dass ich auf die Hauptschule zurückgestuft wurde, habe ich erst allmählich begriffen. Es gibt bei uns zwei Discos, so Jugendclubs. In die eine gingen fast nur Realschüler und Gymnasiasten, in die andere Hauptschüler und Lehrlinge. Ich war erst in dem Club, in dem auch Gymnasiasten waren. Als ich aber von der Realschule geflogen war, habe ich da das Gefühl gekriegt, dass ich schief angeguckt wurde. Da bin ich in die andere Disco gegangen.
Das war eine ganz neue Erfahrung für mich. Diese Trennung gab es in Berlin nicht. Nicht an der Gesamtschule und natürlich erst recht nicht auf der Szene. In der neuen Schule fing die Trennung schon auf dem Pausenhof an. Quer über den Schulhof lief ein weißer Strich. Auf der einen Seite waren in den Pausen die Oberschüler, auf der anderen die Hauptschüler. Es war verboten, über den weißen Strich zu gehen. Ich durfte mich also mit meinen Mitschülern aus der alten Klasse nur über den Strich unterhalten. Das fand ich echt das Schärfste an dieser Einteilung in Jugendliche, die es vielleicht im Leben noch zu was bringen, und Jugendliche, die als Hauptschüler sowieso schon der letzte Schrott sind.
Das war also die Gesellschaft, an die ich mich anpassen sollte. »Anpassen« war jedes zehnte Wort meiner Oma. Gleichzeitig meinte sie, als ich von der Realschule geflogen war, ich sollte mich außerhalb der Schule nicht mit Hauptschülern abgeben, sondern meine Freunde aus dem Gymnasium und der Realschule holen. Ich habe ihr gesagt: »Nun finde dich mal damit ab, dass deine Enkelin eine Hauptschülerin ist. Und ich passe mich an und finde meine Freunde in der Hauptschule.« Das gab dann wieder einen Riesenkrach.
Zunächst wollte ich in der Schule total abschalten. Dann merkte ich aber, dass der neue Klassenlehrer schwer in Ordnung war. Das war ein älterer Typ. Irgendwo total altmodisch in seinen Ansichten, also richtig konservativ. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, dass der den Nazis noch was Gutes abgewann. Aber er hatte Autorität, ohne rumzubrüllen. Er war der Einzige, bei dem wir noch freiwillig aufstanden, wenn er in die Klasse kam. Er war nie gestresst und ist wirklich noch auf die Einzelnen eingegangen. Auch auf mich. Manche von den jungschen Lehrern hatten sicherlich eine ganze Menge Idealismus. Aber sie wurden irgendwie mit ihrem Job nicht fertig. Die wussten genauso wenig, wo es längsging, wie die Schüler. Manchmal ließen sie alles laufen, und wenn das Chaos total war, brüllten sie wieder rum. Vor allem hatten sie keine klaren Antworten auf die Probleme, die uns so beschäftigten. Die kamen immer mit Wenn und Aber, weil sie total verunsichert waren und eben selber nicht wussten, wo es längsging.
Unser Klassenlehrer machte uns keine Illusionen darüber, was heute ein Hauptschüler ist. Er sagte uns, dass wir es wahnsinnig schwer haben würden. Aber mit etwas Fleiß könnten wir auf einigen Gebieten auch Gymnasiasten überlegen sein. Zum Beispiel in der Rechtschreibung. Kein Abiturient sei heute mehr perfekt in Orthografie. Wir hätten also schon eine größere Chance, wenn wir Bewerbungen in total korrektem Deutsch schreiben könnten. Er versuchte uns beizubringen, wie man mit Leuten umgeht, die sich überlegen vorkommen. Und er hatte immer irgendwelche starken
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