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Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo

Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo

Titel: Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane F.
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ausgenutzt würden. Aber ich bin mit meinen Weisheiten überhaupt nicht rübergekommen. Schon eine Stunde bevor die Disco öffnete, standen die Weiber vor dem Spiegel und haben an sich rumgeschminkt und an ihren Haaren rumgezupft. Dann haben sie sich nicht mehr bewegt, damit die Frisur nicht wieder verrutscht.
    Die haben vor dem Spiegel ihr ganzes Ich abgelegt. Die waren nur noch ihre eigene Maske, die den Typen mit den heißen Böcken gefallen sollte. Ich war irrsinnig sauer, wenn ich das sah. Auf eine Art erinnerte das auch an mich. Ich hatte mich auch weggeschminkt und verkleidet, um erst den Typen von der Haschszene und dann von der H-Szene zu gefallen. Ich hatte auch irgendwie mein Ich aufgegeben, um nur noch Fixerbraut zu sein.
    Die ganze Klassenreise drehte sich nur noch um diese miesen Aufreißer, obwohl die meisten Mädchen zu Hause einen festen Freund hatten. Die Elke, mit der ich in einem Zimmer schlief, schrieb den ersten Abend noch einen Brief an ihren Freund. Den zweiten ging sie in die Disco und kam ganz deprimiert wieder. Sie sagte mir, dass sie mit einem Typen geknutscht habe. Ich glaube, sie hatte das nur gemacht, weil sie den anderen Mädchen beweisen wollte, dass sich für sie auch einer von den Typen interessiert. Sie hatte ein wahnsinnig schlechtes Gewissen wegen ihres festen Freundes und fing sogar an zu weinen. Sie bildete sich aber ein, sie hätte sich in den Motorradtypen verknallt. Ihr fester Freund hatte natürlich noch kein Motorrad. Am nächsten Abend kam sie dann total fertig zurück und heulte nur noch. Ihr Typ hatte ein anderes Mädchen aus der Klasse gefragt: »Sag mal, ist die Alte eigentlich zu besteigen, oder was ist mit der.«
    Da war noch ein anderes Mädchen, die Rosi, die war dann noch viel schlimmer dran. Eine Lehrerin erwischte sie mit einem Typen im Auto, als die beiden gerade beim Mausen waren. Mausen wurde das genannt. Die Rosi war so besoffen, dass sie kaum noch laufen konnte. Der Typ hatte ihr einen Cola-Rum nach dem anderen eingeflößt.
    Die Rosi war noch Jungfrau gewesen und nun natürlich total kaputt. Die anderen Mädchen riefen eine Versammlung ein, um zu beratschlagen, was man mit Rosi machen solle. Die haben sich nicht etwa über den Typ aufgeregt, der Rosi besoffen gemacht und dann mehr oder weniger vergewaltigt hatte. Die verlangten alle echt, dass die Rosi nach Hause geschickt werden solle. Ich war das einzige Mädchen, das dagegen redete. Die waren nämlich urisch sauer, dass unsere Lehrer ein totales Discoverbot verhängten. Die wollten also nur selber knutschen und mausen.
    Mich hat es irgendwie fertiggemacht, dass es überhaupt kein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Mädchen gab. Dass jedenfalls jede Freundschaft aufhörte, sobald Typen ins Spiel kamen. Das war irgendwo auch nicht anders als mit dem H, das immer wieder die Freundschaft zwischen Babsi, Stella und mir gestört hatte.
    Obwohl ich eigentlich nicht direkt beteiligt war, machte mich das hoffnungslos und kaputt. Die letzten beiden Tage der Klassenreise hatte ich einen bösen Rückfall. Ich war von morgens bis abends besoffen.
    Ich war trotzdem mittlerweile entschlossen, mit der Welt, so wie sie war, zurechtzukommen. Ich dachte nicht mehr ans Abhauen. Mir war klar, dass Abhauen wieder Flucht in die Drogen war. Und ich machte mir immer wieder deutlich, dass mir das nun erst recht nichts gebracht hatte. Ich dachte, es müsse irgendeinen Mittelweg geben. Sich nicht total an diese beschissene Gesellschaft anpassen und mit ihr doch fertigwerden. Ich fand dann auch einen Freund, der mich sehr ruhig machte. Mit ihm konnte man reden. Und er schien trotzdem immer zu wissen, was Sache ist. Er konnte träumen, er hatte aber auch für alles eine praktische Lösung. Er fand auch vieles beschissen. Aber er meinte, wenn man nur was leiste, dann könne man sich eines Tages von dieser Gesellschaft sozusagen loskaufen. Er wollte erst Kaufmann werden und gut Kohle machen und sich später eine Blockhütte in den Wäldern von Kanada kaufen, um dort zu leben. Für ihn war Kanada genauso der große Traum wie für Detlef.
    Er war Gymnasiast und brachte mich dann echt auf den Lerntrip. Ich merkte, dass mir selbst die Hauptschule noch was gab, wenn man für sich selber arbeitete, und nicht, um den lächerlichen, wertlosen Hauptschulabschluß zu machen. Ich las unheimlich viel. Ziemlich wahllos. Goethes Werther und den Werther von dem DDR-Schriftsteller Plenzdorf, Hermann Hesse und vor allem Erich Fromm. Das Buch von

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