Wir sind nur Menschen
lag und den Jungen langsam und sehr vorsichtig hervorzog. Ein dünner, rhythmisch spritzender Blutstrahl sprang aus dem Arm des ohnmächtigen Jungen.
»Einen Strick! Einen Gürtel! Schnell!« rief Dr. Perthes und drückte seinen Daumen tief auf die Schlagader. Ein Spaziergänger schnallte seinen Gürtel von der Hose ab und reichte ihn dem Arzt.
Schnell und sicher band Dr. Perthes die Schlagader ab und erhob sich dann. Sein Hemd, sein Jackett, seine Hose waren mit Blutspritzern übersät. Er achtete nicht darauf, sondern wandte sich an die Umstehenden:
»Der Junge hat einen Schlagaderriß, er muß sofort versorgt werden! Wissen Sie, ob hier ein Arzt in der Nähe wohnt? Ich möchte ihn nicht eher in die Klinik bringen, bis die Ader sachgemäß abgebunden ist.«
»Gleich um die Ecke, da wohnt ein Arzt«, stammelte der Chauffeur und ließ seinen Blick nicht von dem Jungen, der totenblaß auf der Straße lag. »Wird er sterben …«
»Wenn Sie noch lange herumreden, bestimmt!« Damit hob Dr. Perthes das Kind auf und legte es in den Wagen. »Schnell, fahren Sie uns hin. Worauf warten Sie denn noch?«
»Es ist eine Kinderärztin«, sagte der Chauffeur noch und stieg ein.
»Na, wunderbar! Los, Mann!«
In rasender Fahrt bogen sie um die Ecke und fuhren ein Stück die Dürener Straße entlang. Vor einem neuen Haus hielten sie. Ein weißes Emailleschild leuchtete in der Sonne: ›Dr. med. A. Bender, Kinderärztin‹.
Während Dr. Perthes den Jungen vorsichtig auf die Arme nahm und aus dem Auto trug, schellte der Chauffeur und riß die Tür auf. Dr. Perthes ging mit seiner Last die paar Stufen hinauf.
Dann stand er vor einer jungen, schlanken, schwarzlockigen Frau, die ihn und das Kind anblickte, und – ohne ein Wort zu reden – vor ihnen her in das Ordinationszimmer eilte. Dort deckte sie eine Gummilage über den Tisch und eilte zu dem Instrumentenschrank in der Ecke des großen Raumes.
»Schlagader?« fragte sie kurz. »Unfall?«
»Ja. Er ist unters Auto gekommen.«
»Ihr Wagen?«
»Nein. Ich ging gerade spazieren und sah den Unfall aus nächster Nähe! Der Junge war leichtsinnig, den Fahrer trifft keine Schuld.«
»Danke.« Der Chauffeur, der in der Tür stand, wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ach, Sie sind noch da?« Dr. Perthes legte den Jungen auf dem Tisch zurecht und wandte sich dann um: »Geben Sie mir bitte Ihren Namen und für wen Sie den Wagen fahren. Sollte etwas kommen, so will ich gern als Zeuge aussagen. Ich werde auch anrufen, daß Sie keine Schuld trifft. Sie sehen, selbst als alter Hase kann man am Steuer nicht vorsichtig genug sein.« Er notierte sich die Namen; der Wagenbesitzer war ein Großkaufmann namens Franz Ehrwitte. Dann verabschiedete er den Chauffeur. »Trinken Sie in der nächsten Kneipe einen Cognac«, sagte er zu ihm. »Sie sind jetzt nervös, in dieser Verfassung kann leicht ein neues Unglück geschehen. Aber nur einen …«
»Ich danke Ihnen.« Der Fahrer verbeugte sich. Sein Gesicht war noch immer weiß. »Wenn ich morgen früh nach dem Jungen sehen dürfte … Wo werden Sie ihn hinbringen?«
»In die Lindenburg. Dort können Sie alles erfahren.«
Unterdessen versorgte die Ärztin stumm und mit flinken Händen die gerissene Schlagader des Jungen und klammerte sie ab. Dann untersuchte sie ihn und schüttelte mehrmals mit dem Kopf. Peter Perthes stand an der Tür und beobachtete sie. Dann zündete er sich eine Zigarette an.
»Gefällt er Ihnen nicht?« fragte er leise.
Die Ärztin blickte hoch. »Gehirnerschütterung«, sagte sie mit einem leichten Tadel in der Stimme. »Außer der Schlagader noch eine leichte Rippenquetschung und ein Muskelriß. Das genügt für so einen Jungen! Er muß sofort in die Klinik.« Sie rollte dabei den Gürtel zusammen, der um den Arm des Jungen geschnürt worden war. »Wer hat eigentlich den Arm abgebunden?« fragte sie dann.
»Warum? War es so schlecht?«
»Nein. Sehr gut sogar. Waren Sie es?«
»Ja.«
Dr. Bender sah ihr Gegenüber kritisch an. »Sie waren wohl im Krieg Sanitäter?«
Dr. Perthes lächelte. »Wie man's nimmt.« Sanitäter! Wenn der arme Junge nicht dort auf dem Tisch liegen würde, könnte das eine ganz charmante Unterhaltung werden, dachte er. »Ich habe ab und zu mal im Lazarett gelegen. Einmal hatte ich neben mir einen Kameraden, dem hatte ein russisches Explosivgeschoß den Arm weggerissen. Nun phantasierte er immer des Nachts und glaubte, der Russe wolle ihn mitnehmen. Dabei schlug er um sich, traf seinen
Weitere Kostenlose Bücher