Wir wollen Freiheit
Straße wird geplündert!«, berichtet ein Hausmeister. »In den Wohnblocks an der Schnellstraße geht die
Baltagia
in Wohnungen hinein«, sagt ein anderer. Das staatliche Fernsehen feuert die Angst weiter an: »Hilfe! Bei mir stehen bewaffnete Männer vor der Haustür und sie wollen herein und mich holen!«, schreit eine Frau ins Telefon. Sie ist live in die Sendung geschaltet. Die Moderatorin schaut genervt: »Die glorreiche Armee wird dich beschützen!«, sagt sie. Welch ein Zynismus! Bisher sind nur rund um den Tahrir-Platz Panzer aufgefahren. Auch in unserem Viertel ist bald das Rasseln der Panzerketten zu hören, aber wir wohnen in einem guten Viertel. Bis die Armee auch die Armenviertel erreicht, dauert es noch Tage.
Sonntag – Was macht die Armee?
30. Januar 2011
Am Morgen stellt sich heraus, dass viele der Plündergeschichten tatsächlich Geschichten waren. In der 9. Straße, das ist die Einkaufsstraße in unserem Viertel, ging nur der MacDonalds zu Bruch. Alle anderen Geschäfte sind heile und es gibt sogar frischen Fisch. Ägypten war schon immer ein Land, in dem Gerüchte sich schnell verbreiten. Wo verlässliche Informationen Mangelware sind und den Medien mit Misstrauen begegnet wird, ist das eben so. Doch lassen sich die Geschichten über kriminelle Banden und
Baltagia
nicht pauschal als Gerüchte abtun: Es gibt immer einen Kern Wahrheit, irgendwo wurde tatsächlich eingebrochen, es gab einen Überfall oder sogar Mord. Es ist nur nie so schlimm, wie es erzählt wird. Gerüchte werden in den nächsten Wochen zur stärksten Waffe des Systems Mubarak. Damit |32| halten sie das Volk in Schach. Auch mich. An diesem Sonntag machen sich viele Ausländer auf den Weg zum Flughafen. Es beginnt eine große Ausreisewelle. Die Bilder des überfüllten Flughafens werden im staatlichen Fernsehen gezeigt und verstärken die Panik. Wenn die Ausländer evakuiert werden, dann muss es wirklich schlimm sein. Wo soll das nur hinführen?
Ägypten ohne Polizei bringt aber auch ganz erstaunliche Dinge hervor: Zwei Jugendliche in leuchtenden Westen und ein Mann mit Zigarette im Mund stehen auf einer von Kairos zentralen Kreuzungen. »Die Polizei ist verschwunden. Wir haben sie vertrieben, aber irgendjemand muss sich ja um den Verkehr kümmern«, sagt der Mann mit Zigarette. Er heißt Rami Hassan, ist 37 Jahre alt und hat heute frei: Die Türen der Firma, in der er arbeitet, sind verrammelt: »Da habe ich gedacht, ich sollte etwas anderes Nützliches tun. Für Ägypten!«, sagt er. Am Tag fünf der Revolte ist das Ordnungssystem zusammengebrochen, doch überall übernehmen Menschen Verantwortung: »Wir sind ein gutes Volk, wir wollen eine bessere Zukunft und deshalb wollen wir, dass Herr Mubarak endlich seine Sachen packt und geht!«, sagt Rami Hassan.
Auf dem Tahrir-Platz stehen inzwischen Zelte. Manche bestehen aus zusammengeknoteten Plastikplanen, andere haben Iglu-Zelte aufgebaut. »Seit Freitag bin ich nicht mehr vom Platz gegangen«, erzählt ein junger Mann. In seiner Wange steckt eine Patrone. »Ich kann nicht zum Arzt gehen, da würde mich bestimmt die Staatssicherheit schnappen«, sagt er. Ein paar Ärzte haben eine kleine Krankenstation auf dem Tahrir-Platz eröffnet und versorgen die Wunde notdürftig. »Ich bin der wandelnde Beweis, dass die Polizei am Freitag scharf geschossen hat«, sagt er und grinst mit dem Mundwinkel, der nicht auf die Wunde stößt. In seiner Hand trägt er ein Transparent: »Armee, du musst dich entscheiden zwischen dem Volk und Hosni Mubarak«, steht darauf.
|33| Doch kann sich die Armee so einfach entscheiden? Stellt sie sich auf die Seite des Volkes, dann bedeutet das ein Bruch mit der Führung. Schließlich kommt Mubarak selbst aus der Luftwaffe. Entscheidet sie sich aber für ihn, dann – und deswegen sehen heute auf dem Tahrir-Platz viele Demonstranten so besorgt aus – wird sie womöglich auf die Demonstranten schießen. Am Rande des Platzes stehen Soldaten. Gewehr im Anschlag. Was würden sie machen, wenn sie den Befehl bekämen? Schießen? »Deswegen betet ganz Ägypten, dass Hosni Mubarak endlich, endlich ein Einsehen hat und zurücktritt!«, sagt eine ältere Dame mit Kopftuch. Ihr ist dies Anliegen so wichtig, dass sie es mit ihren 87 Jahren auf sich genommen hat, auch herzukommen.
Die ägyptische Armee hat einen guten Ruf. Sie ist die Institution, in der alle Schichten des Volkes vertreten sind und deswegen gilt sie als wenig korrupt. Zudem haben die
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