Wir wollen Freiheit
Kopftuch hatte also durchaus recht: Der Arabische Frühling hat auch Auswirkungen auf Europa und beeinflusst das Miteinander von Muslimen und Nichtmuslimen. Es ist keine schlagartige große Veränderung. Es wäre aber auch zu viel verlangt, wenn alle Probleme plötzlich vom Tisch wären. Denn es hat sich viel angestaut, seit in den 60er Jahren türkische Einwanderer nach Deutschland kamen und den Islam im Gepäck hatten. Besonders die zehn Jahre seit dem 11. September 2001 haben die Fronten verhärtet.
Auf der anderen Seite des Mittelmeeres ist der Konflikt zwischen den Kulturen, der Graben zwischen dem Islam und dem Westen längst kein großes Thema mehr. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass der Westen ein Problem mit dem Islam hat. Sie erwarten von uns nichts anderes, als dass wir über Minarette und Burkas diskutieren; dass wir ihnen unterstellen, demokratieunfähig zu sein und zugleich mit ihren Diktatoren gute Geschäfte machen. Sie haben Besseres zu tun, als sich darüber jedes Mal aufs Neue zu empören. Dass die Revolution in Tunesien und Kairo gelungen ist, obwohl sich die Regierungen in Europa und Amerika so zögerlich nur auf die Seite der Revolte stellten und im Jemen eine Regierung vertrieben wurde, welche von den USA mit Waffen beliefert wurde, bestärkt die Jugendlichen in ihrem Selbstbewusstsein: Seht, wir können es alleine!
|199| Genau dieser Stolz ist es, der ansteckend wirkt auf junge Muslime in Europa. Sie haben am meisten unter der Gleichsetzung »Islam gleich Terror« und »Koran gleich Kofferbombe« gelitten und waren dringend auf der Suche nach einer positiven Perspektive. Auf dem Tahrir-Platz haben sie diese gefunden.
Viele sagen jetzt: Na, warten wir doch einmal ab, womöglich scheitert der Arabische Frühling noch. Die erste Begeisterung über die Revolutionen ist längst verflogen. Doch selbst wenn der Weg zur Demokratie in Tunesien, Ägypten und dem Jemen holprig ist und auch wenn in Libyen, Syrien und Bahrain die Freiheit nur zu einem hohen Preis oder gar nicht errungen wird, dann schmälert dies nicht den Tahrir-Effekt. Der 25. Januar, der Tag an dem das Wunder passierte und Zehntausende auf dem Tahrir-Platz zusammenkamen, und der 11. Februar, als der Rücktritt Mubaraks gefeiert wurde, sind Momente, die ins Gedächtnis eingehen: Das Unmögliche ist möglich, wenn man zusammenhält. Das ist die Botschaft. Das gilt auch für einen Neuanfang im Zusammenleben in Deutschland. Gestärkt durch ein positives neues Selbstbewusstsein und der einseitigen, auf Terror fixierten Sichtweise entrissen, wird er Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft gelingen.
Ägypten versteht sich gerne als »Umm al Dunia – Mutter der Welt«. Was islamische Strömungen angeht, ist diese Vorstellung auch gar nicht so falsch: Die großen Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts haben hier ihren Ursprung und jetzt besteht Hoffnung, dass von Ägypten wieder ein neuer islamischer Trend ausgeht. Noch ist unklar, wie die Bewegung genau aussehen wird, doch zumindest steht der Anfang unter einem besseren Stern als der Beginn so mancher der anderen Bewegungen: Die Ideen von Hassan al Banna brachte er unter dem Eindruck der britischen Kolonialmacht |200| zu Papier. Said Qutb saß im Gefängnis und wurde gefoltert, als er seine Theorie des Kampfes gegen den ungläubigen Herrscher formulierte. Die Erneuerung jetzt steht unter dem Eindruck der neugewonnenen Freiheit und in Erinnerung daran, dass man seine politischen Ziele nur erreichen kann, wenn man sich mit anderen zusammentut. Auch wird über den Islam und welche Rolle er spielen soll heftig gestritten. Das ist ebenfalls ein gutes Zeichen. Es gibt die Hoffnung, dass sich der Tahrir-Trend weiter durchsetzt. Eine Bewegung, die so selbstbewusst ist, dass sie es nicht nötig hat, ihre Frömmigkeit immer wieder unter Beweis zu stellen. Die konservativ sein wird, aber zugleich offen für Einflüsse von außen. Ägypten und auch Deutschland würde es guttun.
Informationen zum Buch
Die Bilder gingen um die Welt: Im Frühjahr 2011 protestierte die arabische Jugend; erst in Tunesien, dann auch in Ägypten. Die Demonstranten, die sich der Zuschauer jeden Abend in den Nachrichten ansehen konnte, sahen allerdings ganz anders aus, als viele sich das vorgestellt hatten: Spätestens seit dem 11. September 2001 hatte sich in vielen Köpfen das Bild einer radikal-islamischen, antiwestlichen Jugend festgesetzt. Und dann das: Auf dem Tahrir-Platz ebenso
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