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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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Lichtgirlanden des Viermastenzelts standen gegen den blauschwarzen Nachthimmel und schwankten ein wenig im Winde. Im Zelt spielte eine Blechmusik den Auftrittsgalopp einer Pferdedressurnummer und lockte die wenigen Besucher ins Innere.
    Neben mir stand, tiefbraun geschminkt, der Direktor in einem schimmernden indischen Gewand, mit einem perlenbestickten Turban, und erzählte mir die Geschichte seiner Flucht. Sie fand ihren Höhepunkt dann, als in einem Wäldchen die lang auseinandergezogene Wagen- und Tierkolonne unversehens in Maschinengewehrbeschuß geriet und einer der größten Elefanten, von einem Streifschuß getroffen, ausbrach und, von Schmerzen gepeinigt, blindwütend davonstürmte. Dabei stürzte er den Tigerwagen um, dessen Holzwände auseinanderbarsten.
    Ich schrieb eifrig mit, als mir mein falscher Inder die Verfolgung der freigewordenen Raubtiere durch die Partisanenwälder schilderte, und wie es endlich gelang, sie und den angeschossenen Elefanten in einem schon von den Russen besetzten Dorf wieder einzufangen.
    Hier nun war es zu einem neuen Zwischenfall gekommen, weil der sowjetische Ortskommandant verlangte, daß das verwundete Tier getötet würde, da es, schmerzgepeinigt, aufs neue ausbrechen und zu einer Gefahr für die Bevölkerung werden könne.
    »Dort geht Elina«, sagte der Zirkusdirektor in diesem Augenblick seiner Erzählung und zeigte auf ein kleines, starkknochiges Mädchen, das in einem weißen Trikot dem Zelteingang zuschritt. »Sie hat damals unserem Jumbo das Leben gerettet.«
    Ich fragte, ob mir nicht die Artistin den Fortgang der Geschichte selbst berichten könnte. Da sie bis zu ihrem Auftritt noch etwas Zeit hatte, wurde sie von ihrem Chef herangerufen. Elina erzählte mir in einem sehr harten Deutsch, wie sie, als einziges Mitglied, das Russisch verstünde, den Kapitän der Roten Armee in einem hartnäckigen Wortgefecht umgestimmt habe. Als alles zum guten Ende gebracht war, sei seine Dolmetscherin, eine halbe Landsmännin von ihr, hinzugekommen, und diese habe auf seinen Befehl hin einen Passierschein für den Zirkus ausfertigen müssen, der ihnen auf dem weiteren Weg durch das besetzte Böhmen gute Dienste geleistet habe.
    Ich fragte Elina beiläufig, woher sie denn stamme und was sie unter einer ›halben Landsmännin‹ verstehe.
    »Ich bin Lettin«, sagte Elina, »und die Dolmetscherin, die unsere Sprache konnte, ist eine Deutschbaltin gewesen.«
    Ich weiß nicht, wieso ich gleich darauf kam, daß es sich hier um Wera gehandelt haben müsse. Die Artistin starrte mich verwundert an, als ich aufgeregt weiter fragte, ob sie sich noch an den Namen der Frau erinnere. Sie verneinte. Dann fiel ihr ein, daß die Dolmetscherin ihn, als der Kapitän für einen Augenblick aus der Bauernstube gegangen sei, auf ein Blatt geschrieben und ihr heimlich zugesteckt habe. Der Zettel müsse noch bei ihren Dokumenten im Wohnwagen liegen.
    Die nächste Viertelstunde wurde schrecklich für mich, weil sie sich zu einer Ewigkeit dehnte. Elina wurde zu ihrem Auftritt gerufen, und den Direktor holte man in den Stall zu einem kranken Tier. So stand ich allein am rückwärtigen Zelteingang und sah, wenn der schwere Vorhang zurückgeschlagen wurde, die lettische Artistin unter der Zirkuskuppel wie einen weißen Pfeil durch die Luft sausen. Ich hörte den Trommelwirbel, der jeden ihrer Saltos begleitete, und mir war, als ginge ich selbst auf einem schmalen Seil, das an zwei Hoffnungen geknüpft war: an die, daß es so absurde Zufälle nicht geben könne, und an die andere, es müsse sich um Wera gehandelt haben, und ich erführe auf diese Weise, daß sie gerettet und am Leben sei.
    Dann war es endlich soweit. Ich stand in Elinas schmalem Wohnwagen, sah sie in einer kleinen Schatulle nach den Papieren wühlen, und wußte schon vorher aus ihrer knappen Beschreibung, die sie während des Suchens gab, daß ich auf dem Zettel Weras Namen lesen würde.
    »Hat Ihnen die Frau gesagt, wie sie unter die Russen geraten ist?« fragte ich, und meine Stimme muß dabei sehr geschwankt haben.
    »Es geschah wohl irgendwo in Österreich«, antwortete Elina. »Sie hatte sich einem deutschen Verband auf dem Rückzug aus Italien angeschlossen. Und die Russen brauchen Dolmetscher. Aber sie geben sie oft nicht wieder frei.«
    Ich weiß nicht, was die Artistin von mir gedacht haben mag, als ich mit dem gefundenen Zettel, der Weras Namen in Weras Schrift trug, das kleine Wagentreppchen stolpernd hinunterrannte und über die

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