Wir Wunderkinder
Alkoholgetränk machte uns mit fortschreitender Stunde immer lustiger, wenn auch das aufgeweichte Konfetti der Zunge zu schaffen machte. Die Kinder tanzten miteinander und mit uns, und unsere Begeisterung wurde so groß, daß wir um Mitternacht – wir hatten den Kindern eine unbegrenzte Polizeistunde zugebilligt – sogar den Weißwurstersatz ernst nahmen. Von da an wurde es Aschermittwoch und unerwartet dramatisch.
Schlag zwölf erlosch die Fünfzehn-Watt-Lampe. Da wir keine Kerzen mehr besaßen, hatte Kirsten einen Lichtersatz gebastelt, indem sie den Deckel einer Bohnerwachsersatzdose durchgebohrt und durch den Schlitz einen Dochtersatz aus Wollfäden gezogen hatte. Wir zündeten den Docht an, und, siehe da, er brannte. Das Licht war zwar trübselig, aber die Nebenprodukte Ruß, Rauch und Gestank waren echt.
Um halb eins sagte Edith, die einmal hinausgegangen war:
»Das Wasser läuft nicht mehr.«
Kirsten drehte am Küchenwasserhahn. Er röchelte, ohne seine Pflicht zu tun.
Zum Glück wußten wir einen der zahllosen Mituntermieter der Büllrumpschen Villa im Besitz einer aus Wehrmachtsbeständen erbeuteten Lötlampe. Wir weckten ihn, und er versprach gutwillig, die eingefrorenen Leitungen aufzutauen.
Um ein Uhr fünfzehn lief das Wasser wieder – durch die reich mit Ornamenten verzierte Stuckdecke unseres nordpolaren Schloßraumes. Bald hingen Eiszapfen vom Kronleuchter nieder, und die blauen Damastwände wurden schwarz von Wasserflecken.
Das ganze Haus geriet in Bewegung, rannte zusammen und auseinander, und Herr Büllrump bekam im Treppenhaus einen Tobsuchtsanfall, in dessen Verlauf er uns alle miteinander hinauszuwerfen drohte. Als er mich und meine Familie in karnevalistischer Aufmachung erblickte, verschlug es sogar ihm die Rede.
Wenn nicht um halb drei Uhr morgens mit wildem Geklingel die Feuerwehr im Vorgarten aufgefahren wäre, hätten wir vermutlich, vom Alkohol beschwert, wenigstens den Rest der Nacht noch ruhig verschlafen. Aber unser ungeschickter Amateurschlosser hatte beim Auftauen des Wasserohrs einen Balken zum Glimmen gebracht, und ein spät heimkehrender Untermieter hatte den Flur des Oberstocks von Rauch erfüllt gefunden.
Weil sich der Brand inzwischen ganz hübsch weitergefressen hatte, mußte der Balken von den Feuerwehrleuten mit Äxten aus einer Badezimmerwand herausgeschlagen werden, die ein Mosaikfresko ›Das Bad der Venus‹ zierte. Ulli, der sich, wie alle Kinder seiner Zeit, auf das Organisieren verstand, trug den schönen Leib der Göttin, in Gestalt glitzernder Steinchen, in seiner Hosentasche davon …
Unsere Gesichter waren schmutzig und rußverschmiert, und als ich die zum erstenmal wirklich verzweifelte Kirsten auf die Wange küßte, schmeckte sie wie eine Räucherware.
Es blieb noch lange Aschermittwoch bei uns, noch lange auch kalt und lichtlos. Dann kam plötzlich, Ende März, der Frühling. Er kam mit allen dazugehörigen linden Lüften, mit Schlüsselblumen, Zitronenfaltern und elektrischem Strom.
Unsere Herzen und das Nordpolzimmer tauten auf, und als wir – abermals einige Wochen später – zum ersten Mal neben unserer Tonvase in dem uns zugeteilten Gartenzipfel saßen, brachte die Paketpost die zweite Hälfte von Herrn Hansens wärmendem Geschenk, das bis dahin auf einer Postzollstelle gelagert hatte.
Kirsten nähte die beiden Teile des Wintermantels in der Rückennaht zusammen und ließ mich darin wie ein Mannequin – aus allen Poren schwitzend – unter bienenumsummten, blühenden Kirschbäumen auf- und abschreiten.
Die große Illusion
Woran lag es wohl, daß es mir damals in der Heimatstadt nicht mehr gelang, eine Brücke zur Kindheit zu schlagen? Nicht nur aus der Vogelschau fand ich das Elternhaus nicht mehr. Die Welt von Tante Remmy und Onkel Bense, der unheroisch an einem Darmgeschwür gestorben war, von Gorgo und den Kindheitsfreunden lebte mir hier weniger farbig in der Erinnerung als einst in unserem Münchner Haus. Zwischen damals und heute lag ein brennender Abgrund, in dem mehr zerstört worden war als nur unsere Vierzimmerwohnung ›mit allem Komfort‹.
Nach meiner Heimkehr hatte es noch eine große Illusion gegeben: die von der wunderbaren neuen Welt, in der mit dem Jahre Null eine andere, bessere Menschheitsgeschichte anfinge, frei von Blut und Angst. Jetzt aber begannen wir einzusehen, daß doch viel altes Kapital in diese neue Welt hinübergenommen worden war, das, recht angenehm für seine Besitzer, die ersehnte Zukunft
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