Wir Wunderkinder
mit gefährlicher Vergangenheit belastete.
Dennoch wurde gerade ich ein munterer Lobpreiser der Vergangenheit. Ich verriet meine Ideale aus Hunger an das, was man in jener Zeit einen ›guten Job‹ zu nennen begann und wodurch ich wieder an meinen alten Beruf anknüpfen konnte.
In der Landeshauptstadt waren inzwischen Zeitungen gegründet worden, die nun auch unsere kleine Stadt wieder mit Aktuellem und vor allem den stets beliebten lokalen Nachrichten versorgten. Als man mich zum Lokalreporter ernannte, ahnte ich zunächst nicht, was für nahrhafte Möglichkeiten sich daraus ergeben könnten.
Mit Chronik, Kirchenbuch und Standesamtsregister bewaffnet, attackierte ich die Historie meiner Heimat und ihrer Mitbürger. Je älter sie waren, um so besser. Ich sammelte goldene und diamantene Hochzeiten, siebzigste, achtzigste und neunzigste Geburtstage. Ja, sogar eine muntere siebenundneunzigjährige Dame brachte ich mit einem eleganten journalistischen Blattschuß zur Strecke.
Ich erkannte damals, welche Wonnen es schlichten Gemütern bereitet, »in die Zeitung zu kommen«, und welche Opfer sie dafür zu bringen bereit waren. Opfer nicht an Gut und Blut, aber an Eiern und Zervelatwurst, an Schuhsohlen und Kochtöpfen – Kirsten besaß deren jetzt schon drei! –, an Damenstrümpfen und Mohnkuchen.
Messingbeschlagene Photoalben, mit rotem Samt bezogen, wurden meinetwegen aus Kommodenschubladen geholt, die brüchigen rosa Bänder von alten Briefstapeln gelöst, neckische Souvenirs aus Vertikos ans Tageslicht gebracht. Immer kühner wurde ich in meiner historischen Begehrlichkeit. Ich verwirrte eine uralte Dame nach dem dritten Glas von selbstgemachtem Eierlikör so, daß sie nachträglich bereit war, ihren Bräutigam, den Herrn Sekondelieutenant, an der Kaiserproklamation von Versailles teilnehmen zu lassen. Da Anton von Werners Bild als Reproduktion über ihrem Biedermeiersofa hing, brachte ich sie dazu, das Bein des einst Geliebten, mit historischer Akribie gemalt, in der glanzvollen Menge zu erkennen. ›Das Bein des Sekondelieutenants‹ wurde wenige Tage später als schmissige Lokalspitze von einer presseentwöhnten, ausgehungerten Leserschar verschlungen.
›Schiller und Goethe‹ waren, in meiner Heimatgegend zuständig, dort allmählich zu einem verklebten Bildungsbegriff geworden. Indem ich die Erinnerung an sie belebte, suchte ich ihre siamesische Zwillingsschaft wegzuoperieren. Jenem goldenen Paar freilich, das, einander soufflierend, mir Schillers ›Glocke‹ von A bis Z aufsagte, aber mich angesichts eines üppig gedeckten Tisches fasten ließ, widmete ich nur fünf sachliche Zeilen.
Es dürfte sich nicht empfehlen, daß künftige Doktoranden meine spritzigen Feuilletons dereinst als historische Quellen benutzen, denn das Gewimmel von Prominenz, das ich mit den Lebensläufen redlicher alter Bürger meiner Heimatstadt verquickte, müßte die Weltgeschichte aus den Angeln heben. Da drückt Lukas Cranach in der Stadtpfarrkirche dem Maler Holbein einen Pinsel in die Hand, welcher heute noch im Besitz des Porzellanwarenhändlers Schierholtz ist 1 {51} , Johann Sebastian Bach orgelt ein Präludium, zu dem der Urvorfahr eines alten Fräuleins mit zwei Ofenknien – wir bauten sie trotz des hochsommerlichen Wetters sofort ein – andächtig die Bälge tritt. Napoleon bezieht auf dem Wege nach Moskau nur deshalb in der alten Schmiede neben der Volksschule Quartier, weil der heutige Schmied (goldene Hochzeit!) viele schöne, starke Nägel besitzt, für welche die Bauern gern ein paar Pfund Mehl geben.
Goethe aber – gesegnet sei die Ratschronik! – hatte wirklich und wahrhaftig in mehreren Gasthausbetten des Städtchens gelegen, und man durfte ihm die einem künftigen Fremdenverkehr förderlichen Goethezimmer und -betten rechtens nachrühmen. In jedem der in Frage kommenden Gasthöfe habe ich mit Kirsten, Ulli und Edith einmal markenfrei phantastische Braten und – für die Kinder besonders interessant! – echte, d.h. aromafreie Süßspeisen essen können. In der ›Post‹ durften wir vier sogar an acht Mittagen aufkreuzen, nachdem der Wirt sich einer mündlichen Überlieferung erinnert hatte, wonach der olympische Gast aus Weimar in später fröhlicher Stunde seinem Vorfahren ein Preisgedicht widmete.
Ich rekonstruierte dieses nicht mehr vorhandene Gedicht als schlagkräftigen Zweizeiler, den ein aus dem Rheinland evakuierter Kunstgewerbler bereitwillig (gegen nur ein Mittagessen!) in Goethes
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