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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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und kenne Ihre Antwort.
    Ein kleines Mädchen hat einmal gesagt, dass man eigentlich immer da ist, wo man ist, wenn man die Augen geschlossen hat: Man ist im Dunkel und im Nichts. Ein kleines Mädchen, stellen Sie sich das mal vor. Ich möchte mir nicht anmaßen zu entscheiden, ob das für alle und jeden stimmt, aber für mich zumindest stimmt es. Ich muss meine Augen aufhalten, um da zu sein und wenigstens die Illusion zu haben, etwas zu sehen.
    Wenn ich es mir erlauben darf, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, so sollten Sie Ihre Entscheidung, zurück nach Europa zu gehen, unter genau diesem Aspekt betrachten. So wie ich Sie kennengelernt habe, sind Sie ein Mensch, der bis zu einem gewissen Grad über sich Bescheid weiß. Wie wären Sie sonst hier bei uns gelandet?
    Ich habe es sehr genossen, mit Ihnen die Tage zu verbringen. Besonders auf Ihrem Balkon, um den ich Sie, wie Sie sich vorstellen können, sehr beneide. Sie wissen hoffentlich, dass Sie mit Ihrer Terrasse in unserer kleinen Hausgemeinschaft einen äußerst privilegierten Platz innehaben bzw. innehatten. Eine Ruelle ist ein wunderbarer Ort, eine Straße, die wie alle Straßen nach zwei Richtungen offen ist, aber nur selten als Straße benutzt wird. Ein offener und öffentlicher Weg in die privaten Haushalte, finden Sie nicht? Eine Ruelle bietet immer eine Möglichkeit unmittelbar Anteil an dem Leben zu nehmen, das sie ununterbrochen erfüllt, und es hat mir großes Vergnügen bereitet, gerade diesen Ort mit Ihnen zu teilen. Sie werden sich sicher fragen, wie das möglich ist Mit Hilfe unserer verständnisvollen Vermieterin und unter Verwendung gewisser neuerer technischer Errungenschaften, die selbst mit meinem geringen Auskommen zu finanzieren waren (weil ich mich tatsächlich aufs Allernötigste beschränkt habe), ist es mir gelungen, in unserer kleinen Gemeinschaft ein System zu etablieren, das es mir ermöglicht, in allen Wohnräumen gleichzeitig an- und abwesend zu sein, denn das ist, wie Sie sicherlich begreifen, die einzige mir mögliche soziale Daseinsform. Angefangen habe ich mit simplen Löchern. Das war weit vor Ihrer Zeit bei uns und hat nur zu spärlichen Einblicken gereicht. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war recht hoch. Wollte ich mich nicht auf meinen direkten Nachbarn beschränken (was auf Dauer schlicht zu langweilig gewesen wäre), musste ich mein Zimmer verlassen. Einmal wurde ich sogar von Ihrem Vormieter, einem Alkoholiker, dessen langsamen Verfall ich hautnah miterleben konnte, erwischt. Mein Glück war, dass er mich während eines Vollrausches an einem der Löcher entdeckte und den Vorfall am nächsten Tag schon wieder vergessen hatte. Trotzdem musste ich von da an umdenken.
    Das System, mit dem ich jetzt arbeite, erlaubt mir, innerhalb meiner vier Wände zu bleiben. Eine für mich optimale Situation. Die Bildschirme nehmen in meinem Zimmer nicht viel mehr Platz weg als ein normal großer Fernseher. Sie sollen wissen, dass Sie mit einem gewissen Abstand mein Lieblingsnachbar waren, und ich möchte Ihnen auf diesem Weg sagen, wie sehr es mich gefreut hat, Sie kennengelernt zu haben. Ich lasse Ihnen diese Beichte zukommen in der Hoffnung, dass Sie mich vielleicht verstehen. Falls dem nicht so ist, bin ich mir bei Ihnen dennoch sicher, dass Sie es sich nicht anmaßen, über mich zu richten.
    Den Schritt, den ich mit diesem Brief gegangen bin, gehe ich zum ersten Mal. Er erklärt sich allein aus meiner Sympathie für Sie. Sollten Sie es für nötig halten, mich zur Rede zu stellen, so muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich die Tür nicht öffnen werde.
    Die Möglichkeit, die sich Ihnen durch das Ableben Ihrer Großtante bietet, sollten Sie, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, nicht unterschätzen. Das Testament ist eine Einladung. Sie haben lange genug nur zugeschaut. Für Sie ist es an der Zeit, sich zu zeigen. Ich werde die langen Sommerabende mit Ihnen auf Ihrer Terrasse vermissen. Für morgen wünsche ich Ihnen einen guten Flug und für später von Herzen alles Gute in der alten Welt. Ihr ehemaliger Nachbar T.
     
    Marco H. starrt auf das Papier, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwimmen. Er weiß nicht, wofür das T. stehen könnte. Das Haus ist keines von der Sorte mit goldenen Namensschildchen an der Tür. T. hat Wanzen und Kameras in seiner Wohnung installiert. Als Hors d'ceuvres ziehen nun ein paar der Dinge, bei denen er lieber für sich alleine geblieben wäre, an seinem innerem Auge vorbei. Dinge, bei denen

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