Wittgenstein
umsonst, man bekommt unaufgefordert ein Kännchen Jasmintee hingestellt. Er schenkt sich ein und holt den Brief aus seiner Tasche.
Den Tee trinkt er in kleinen Schlucken und genießt den leicht bitteren Geschmack. Auf dem Briefpapier, ebenfalls eierschalenfarben, ist passend zum Umschlag dasselbe Wappen in der oberen rechten Ecke eingedruckt.
Lieber Nachbar,
sicher wundert es Sie, von mir einen Brief zu bekommen. Sie leben nun schon seit gut 14 Monaten in unserem Haus, und alles, was man Ihnen von Seiten der Nachbarschaft entgegengebracht hat, war äußerstes Desinteresse. Wenigstens muss es Ihnen so erscheinen. Wie Ihnen die Tatsache, von mir einen Brief zu bekommen, vielleicht bereits zeigen mag, interessiere ich mich sehr wohl für Sie und bin an Ihrer Meinung über mich ebenfalls nicht uninteressiert. Auch wenn mein gestriges Benehmen bei Ihnen einen anderen Eindruck hinterlassen hat. Wir sind Nachbarn, und Nachbarschaft bedeutet gerade in Häusern wie unserem doch sehr viel.
Sie können mir glauben, dass einer der schmerzlichsten Umstände meines Lebens derjenige ist, nicht zu wissen, was andere von mir denken. Natürlich wissen wir alle in letzter Konsequenz nicht, was unser Gegenüber von uns denkt, jedoch bringt die Art, wie ich mein Leben lebe, diese Unwissenheit in weitaus extremerer Weise mit sich. Darüber aber muss ich froh sein. Für mich ist es ein Glück, dass derjenige, der sich den Menschen nicht aufdrängt, bis zu einem gewissen Grad von ihnen übersehen wird. Ein Widerspruch, der sich nicht auflösen lässt, werden Sie denken: Einerseits interessieren mich die Gedanken der Mitmenschen zu meiner Person, andererseits möchte ich übersehen werden. Für mein bescheidenes Glück ist es sogar notwendig, übersehen zu werden. Seit frühester Kindheit haben mich die Blicke meiner Mitmenschen, gelinde gesagt, irritiert. Immer habe ich mich als Körper den Blicken anderer Körper ausgeliefert gefühlt. Ich will Sie nicht mit der Aufzählung der Symptome, die diese wohl oberflächlichsten Sozialkontakte bei mir auslösen, langweilen. Es sei nur so viel gesagt - meine gestrige Reaktion war harmlos und Ihre Anwesenheit in unserem Flur für mich nicht besonders schmerzhaft. Ein positives Zeichen und allein durch die Tatsache erklärbar, dass ich Sie kenne und schätze. Wäre ich auf einen der anderen Bewohner gestoßen, wäre es für mich sicherlich weniger harmlos ausgegangen. Die in ihrer Dumpfheit vor sich hin vegetierenden Bewohner der anderen Zimmer (mit Ausnahme unseres indischen Freundes Dr.
Singh, der zwar Ihre morgendliche Toilette erschwert, ansonsten aber ein hochsensibler Mensch ist) haben eine unerträgliche Wirkung auf mich, wenn ich ihnen gegenüberstehe. Es liegt mir fern, von so etwas wie Seelenverwandtschaft zu sprechen, aber bei Ihnen hege ich doch die Hoffnung, dass gerade Sie mich verstehen. Früher ist es mir fast nie gelungen, jemanden anzusehen, ohne selbst angesehen und dadurch verletzt zu werden. Blicke haben die Eigenschaft, mir im wahrsten Sinne des Wortes Schmerzen zuzufügen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich rede von einem realen, brennenden Schmerz. Mein Gebrechen hat mich zu besonderen Maßnahmen greifen lassen. Auf meine ganz spezielle Art gehe ich auf meine Mitmenschen zu, auch wenn und gerade weil diese keine Notiz davon nehmen. Mein Leben ist nicht so einsam, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Meine Türe bleibt geschlossen, meine Fühler sind nichtsdestotrotz ausgestreckt. Ich nehme auf die mir mögliche Art Anteil am Leben meiner Mitmenschen. Ich spioniere, wenn Sie so wollen. Denken Sie nicht, dass mir die Fragwürdigkeit eines solchen Tuns nicht bewusst ist. Sie ist es durchaus. Dasjenige, was zu erleben mir unerträglich wäre, nämlich ausspioniert zu werden, was mich am Boden zerstören würde, mir alles nehmen würde, was ich tatsächlich habe, meine vier Wände, meine Privatsphäre, der Ort, an dem ich ich sein darf, geschützt vor den Blicken anderer, ist gerade das, was, wenn ich es selbst anderen wegnehme, mir ermöglicht, an so etwas wie sozialem Leben überhaupt teilzunehmen. Ich dringe in die Privatsphäre anderer ein, so wie Blicke in mich eindringen, wenn ich nicht aufpasse. Mir bleibt keine andere Wahl, das müssen Sie mir glauben. Ein Leben, von dem keine Notiz genommen wird, ist nicht viel, aber es ist immer noch ein Leben. Aber ein Leben, das aufgehört hat, Notiz zu nehmen, kann man das noch als Leben bezeichnen? Ich frage Sie
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