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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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gleich zweimal aufsucht. Hier zieht er vorm Spiegel ein paar Grimassen, stößt leise Schreie aus und zuckt ein wenig hin und her, wobei er möglichst den gesamten Raum ausnutzt.
    Als er zum zweiten Mal aus diesem erstaunlich großen Oval in den mittlerweile leeren Wagen tritt (die letzten drei Schüler haben ihn zwei Stationen zuvor verlassen), sieht er gerade noch, wie der Zug um eine Kurve und in das Tal hinein fährt, das die kleine Stadt Bad Berleburg bildet. An den Hängen links und rechts stehen Einfamilienhäuser sowie ein paar vier- bis fünfstöckige Mehrfamilienhäuser. Da, wo keine Häuser stehen, beginnt der Wald. Das Gros der Stadt liegt an der Hauptstraße, die das Tal entlang einer der tiefsten Stellen durchschneidet. Ein paar kleine Seitenstraßen hier und da, die eine oder andere Parallelstraße, nicht zu vergessen die Oberstadt mit großer Kirche und Schloss.
    Der Zug hält neben dem Bahnhofsgebäude, und es beginnt zu regnen. Er ist der einzige Fahrgast, der bis zur Endstation gefahren ist. Er reist mit leichtem Gepäck, einem Rucksack und einem Handkoffer. Die Reise von Montreal ist ruhig und ereignislos verlaufen. Während des Flugs hatte er sich noch darüber geärgert, dass er dem Mann, dessen Türe sich tagsüber nicht öffnet, keine passende Antwort auf seinen Brief gegeben hatte, aber die Koffer waren so gut wie gepackt, und er hätte keine passende Antwort gewusst. Der Mann hatte ihn schließlich auch nichts gefragt. Alles, was er wissen wollte, wusste er schon. Beim Beobachten weiß der eine alles oder fast alles und der andere nichts oder fast nichts, daraus resultiert die natürliche Harmonie der Beziehung. Diese Harmonie im Nachhinein zu zerstören, ist nicht gerade professionell, aber, wie hatte der Mann sich ausgedrückt, »erklärt sich allein aus meiner Sympathie für Sie«. Marcos Sohle trifft mit den ersten Tropfen auf den Bahnsteig. Bad Berleburg riecht nach Gewitter. Er verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und flüchtet vor dem Regen in die Bahnhofshalle. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, brauchen seine Augen einen Moment, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Der Raum wird nur spärlich durch die gegenüberliegende Glastür, den Eingang zur Stadt, beleuchtet. Der Boden ist in schwarz-weißem Karomuster gekachelt, die Wände sind auf zwei Meter mit dunklem Holz vertäfelt, darüber hat man Wände und Decke ockerfarben gestrichen. Der einzige Schalter ist nicht besetzt. Auf ein paar Postern hinter Glas werden die Vorteile der Deutschen Bundesbahn gepriesen und mit ein paar lächelnden Menschen verziert.
    Der Eindruck von Verlassenheit hat sich wie eine feine Staubschicht über ihn gelegt, als ihn ein Schmatzgeräusch hinter ihm aufschrecken lässt. Aus der schattigen Ecke neben der Tür zum einzigen Gleis tritt ein etwa zehnjähriges Mädchen mit einer Papiertüte in der Hand drei bis vier zaghafte Schritte in den Raum hinein. Auf der fettfleckigen Papiertüte sieht man einen Laib Brot, zwei Brötchen und Brezeln, von denen verführerische Duftwolken ewig aufsteigen. In der halb leeren Tüte befinden sich noch zwei Puddingteilchen, und an den glänzenden Händen des Mädchens kleben Krümel. Ihr Blick könnte ängstlich sein, ist es aber nicht, dafür hat sie zu viele Puddingteilchen gegessen. Ihre kleinen, grauen Augen blicken durch ihn hindurch, wie Geister, die durch Mauern schweben. Sie sagt nichts und steht nur unbeweglich da, vier Schritte von der Wand entfernt, in ihren hellblauen Stoffhosen und einem lila melierten Strickpullover. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht eines Tages sehr dick sein würde.
    »Hallo«, grüßt er, damit er ihr nicht für alle Zeiten schweigend gegenüberstehen muss, und um die unsichtbaren Fäden zu kappen, die entstehen, wenn man sich eine gewisse Zeit schweigend gegenübersteht. Als Antwort lächelt das Mädchen eher gezwungen und piepst dann mechanisch, als sei ihre Tonlage ein für alle Mal fixiert: »Willkommen in Bad Berleburg, der Perle Südwestfalens!« Die Bahnhofshalle ist zu klein, um anständigen Hall zu erzeugen. Kaum hat man etwas gesagt, ist es auch schon verschwunden. Er weiß deshalb nicht, ob er richtig gehört hat. Aber eine Wiederholung gibt es nicht.
     
    Ohne auf eine Reaktion von ihm zu warten, macht das Mädchen drei ausladende Schritte rückwärts und schiebt sich an der Wand entlang zur Tür, um auf dem Gleis zu verschwinden. Lautlos fallen die aufgewirbelten Körnchen zurück an

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