Das Gold der Maori - Das Gold der Maori
W ÜRDE
Irland, Wicklow County
1846 – 1847
K APITEL 1
Mary Kathleens Herz klopfte heftig, aber sie zwang sich, langsam zu gehen, bis sie außer Sicht des Herrenhauses war. Nicht dass ihr wirklich jemand nachgeblickt hätte. Und selbst wenn die Köchin etwas ahnte – gegen das, was die alte Grainné vom Haushalt der reichen Wetherbys abzweigte, zählten zwei Teekuchen gar nichts.
Mary Kathleen fürchtete denn auch keine wirklichen Verfolger, als sie sich jetzt zitternd hinter eine der Steinmauern kauerte, die hier, wie überall in Irland, die Felder begrenzten. Sie boten Schutz gegen den Wind und neugierige Blicke, aber vor ihren Schuldgefühlen konnten sie Kathleen nicht schützen.
Sie, Mary Kathleen, die Musterschülerin des Bibelunterrichts von Father O’Brien, sie, die bei der Firmung stolz den Namen der Gottesmutter ihrem eigenen vorangesetzt hatte – sie hatte gestohlen!
Kathleen konnte immer noch nicht fassen, was da über sie gekommen war, aber als sie das Tablett mit den Teekuchen in die Räume der vornehmen Lady Wetherby getragen hatte, war ihr Verlangen geradezu übermächtig geworden. Scones, frisch gebacken aus weißem Mehl und nicht minder weißem Zucker, serviert mit Marmelade, die nicht einfach aus Beeren gekocht worden, sondern in hübschen kleinen Gläsern aus England gekommen war. Laut der Aufschrift, die Kathleen mühsam entzifferte, wurde sie aus »Orangen« hergestellt. Was immer das war – sicher schmeckte es köstlich!
Kathleen brauchte all ihre Kraft, die Kuchenplatte vorsichtig zwischen Lady Wetherby und ihrer Besucherin auf dem Teetischzu platzieren, zu knicksen und höflich »Bitte sehr, Madam!« zu flüstern, ohne dabei zu sabbern wie der Hund des Schäfers. Bei dem Gedanken daran musste sie hysterisch kichern. Aber sie war fast ein bisschen stolz auf sich gewesen, als sie zurück in die Küche ging – wo die alte Grainné sich gerade eines der leckeren Küchlein schmecken ließ. Natürlich ohne Kathleen oder dem Küchenmädchen auch nur einen Krümel davon abzugeben.
»Mädchen!«, pflegte Grainné zu predigen, »ihr könnt eurem Herrgott schon genug dafür danken, dass ihr diese Anstellung im Herrenhaus ergattert habt. Da fällt immerhin mal ein Kanten Brot für euch ab. Jetzt, in der Zeit, in der die Kartoffeln auf den Feldern verfaulen und die Menschen hungern, kann das euer Leben retten!«
Kathleen sah dies durchaus ein – ihre Familie war ohnehin vom Glück begünstigt. Als Schneider verdiente ihr Vater immer ein wenig Geld. Die O’Donnells waren nicht allein auf die Kartoffeln angewiesen, die Kathleens Mutter und die Geschwister auf ihrem winzigen Acker zogen. Wenn die Not zu groß wurde, nahm James O’Donnell von seinen wenigen Ersparnissen und kaufte Lord Wetherby oder seinem Verwalter Mr. Trevallion eine Handvoll Korn ab. Kathleen hatte keinen Grund zu stehlen – und doch hatte sie es getan.
Warum mussten Lady Wetherby und ihre Freundin aber auch zwei der Teekuchen übrig lassen? Warum hielten sie kein Auge darauf, während Mary Kathleen den Tisch abräumte? Die Damen waren ins Musikzimmer gegangen, wo Lady Wetherby Klavier gespielt hatte. Die restlichen Scones interessierten sie nicht, und Grainné, das hatte Kathleen gewusst, würde auch nicht misstrauisch werden. Lady Wetherby war jung und ein Leckermaul. Sie ließ selten Naschereien zurückgehen.
Also hatte Kathleen es getan. Sie hatte die Scones in den Taschen ihrer schmucken Dienstbotenuniform und später zwischen den Falten ihres verschlissenen blauen Kleides versteckt – und zu guter Letzt einen weiteren Diebstahl begangen, indem sie das fastleere Marmeladenglas einsteckte, statt es auf Grainnés Geheiß auszuspülen. Nun war das eine lässliche Sünde, sie würde es sauber zurückbringen, wenn sie es ausgekratzt hatte. Der Diebstahl der Scones jedoch würde ihr auf der Seele brennen, bis sie am Samstag bei Father O’Brien beichten konnte. Wenn sie sich überhaupt traute, es zu beichten. Sie wusste, dass sie vor Scham im Boden versinken würde.
Mary Kathleen bereute ihre Sünde jetzt schon zutiefst – obwohl sie die Scones noch nicht einmal gegessen hatte. Aber sie verzehrte sich nach ihrem Geschmack und ihrem Duft. Gott, hilf mir!, durchfuhr es sie, während sie überlegte, ob sie die Sünde abschwächen konnte, indem sie ihren jüngeren Geschwistern die Teekuchen schenkte. Das wäre zumindest tätige Reue gewesen – und eine viel härtere Strafe als das Herunterbeten von zwanzig Ave Maria.
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