Wittgenstein
sogar ihren Schwiegersohn aus der Stadt angerufen, damit sich jemand um den Transport kümmert. Aber er ist kein kleines Kind. Er ist so weit davon entfernt, ein kleines Kind zu sein, wie man es nur sein kann, und es wäre ja noch schöner, wenn er jemanden brauchte, der ihn zu seinem Bruder bringt.
Der alte Mann geht seines Weges und schimpft vor sich hin. Trotz des Hinkens kommt er schnell voran, und wie der Himmel über ihm aussieht, ist das auch besser so. Er sollte ankommen, bevor seine Kleidung vollkommen durchnässt ist. Wittgenstein ist für seine Frühlingsunwetter über die Grenzen hinaus bekannt. Warum hat er keinen Schirm mitgenommen? Er kann das Unwetter, das sich über ihm zusammenbraut, schon riechen, und wenn er ehrlich ist, wäre ein Chauffeur keine so schlechte Idee gewesen. Er ist ein Dickschädel, aber auch das ist das Alter. Früher war es einfacher, mit ihm auszukommen, das weiß er selbst. Die Veränderungen, die in ihm vorgegangen sind, ihn haben kauzig werden lassen und schnell ungehalten, wenn etwas nicht so lief, wie er es gern gehabt hätte, hat er ja selbst gespürt. Er meint, sie haben ihre Entsprechungen in seinem körperlichen Niedergang. So einfach und so schwer und so endgültig. Man kann die verdammte Zeit nicht anhalten. Und der Zeitpunkt, an dem er das vielleicht noch gewollt hätte, ist schon lange vorbei.
Die wenigen Autos, die an ihm vorbeirasen, scheinen Fremden oder Zugezogenen zu gehören, sonst hätte sicher schon einer angehalten. Aber solange das Unwetter nicht losbricht, gibt es dafür keine wirkliche Veranlassung. Und in dem Moment geht es los. Aus den Fäden werden schwere Tropfen, die auf ihn einprasseln. Er stöhnt und flucht, aber der Lärm ist so ohrenbetäubend, dass er seine eigene Stimme nur unter dem Hut in seinem Kopf hören kann, und da hilft sie irgendwie nicht. Er hat sich überschätzt und seine Frau erneut recht behalten.
»Sie muss nicht mal mehr den Mund aufmachen, um recht zu haben. Sie muss nicht mal wissen, worum es geht!«, denkt er und bleibt stehen. Er könnte zurückgehen, es wäre immer noch die kürzere Strecke. Innerhalb von Sekunden ist er nass bis auf die Knochen. Der Wind peitscht ihm die eiskalten Tropfen ins Gesicht. Er steht mitten auf der Fahrbahn. Für einen kurzen Moment ist er tot, doch bevor er auf den Asphalt klatscht, lebt er wieder und geht trotzig weiter.
Weit vor ihm biegen ein paar Scheinwerfer um eine Kurve und sind auf der Zielgeraden, aber das wissen sie noch nicht. In diesem Stadium sind sie einfach zwei Lichter im Dunkeln, wie andere Lichter im Dunkeln, doch sie kommen schnell näher.
Theodor S. ist ein alter Mann, und er läuft mitten auf der Straße an einem Abend, an dem die Sichtverhältnisse wirklich schlecht sind. Der Regen trommelt auf seinen Hut, und er ist versunken in seine Vergangenheit, leidet unter der Gegenwart und fürchtet die Zukunft. Kurz, er ist nicht sehr aufmerksam, nicht so ganz bei der Sache, wie der Lehrer sagt.
Als er die Scheinwerfer auf sich zukommen sieht, ist es bereits zu spät. Der Mercedes erfasst ihn frontal und schleudert ihn ein paar Meter weit durch die Luft. Er landet komisch verkrümmt in einer der Pfützen zwischen Leitplanke und Straße, mit offenem Schädel, das Gehirn entblößt durch eine klaffende Wunde. Sein großer Bruder kommt herbeigeeilt und versucht ihn rauszuziehen, aber da ist etwas, das ihn immer tiefer nach unten zieht. Der Bruder wird jünger und heller und ist schließlich nur noch ein Licht, zwei Lichter. Etwas Zeit vergeht. Die Kupplung wird getreten, der erste Gang eingelegt, der linke Fuß lässt die Kupplung langsam kommen, der rechte Fuß tritt auf das Gaspedal. Rechtes Vorder- und Hinterrad rollen durch die Pfützen neben der Straße. Der Mercedes bewegt sich auf den bereits toten Theodor S. zu. Ungefähr einen Meter vor der Leiche des alten Mannes dreht der Wagen ab und fährt an ihm vorbei, in den Abend und in die Nacht, die in dieser Gegend besonders lange dauern kann.
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Der in der mittelgroßen Provinzstadt bereits spärlich besetzte Regionalzug verliert auf seinem Weg nach Bad Berleburg immer mehr Gäste, die nicht durch neu Zusteigende ersetzt werden können, weil die Dörfer, in denen sich die Haltestellen befinden, immer kleiner werden. Aus zwei identischen und hochmodernen Wagen bestehend, verfügt der Zug über eine in der Mitte jedes Wagens angebrachte ovale Toilettenkabine, die Marco H. auch aufgrund ihrer großzügigen Maße
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