Witwe für ein Jahr (German Edition)
größte Befürchtung war, daß das Unanständige längst so alltäglich geworden war, daß man es gar nicht mehr übertreiben konnte.
In ernsthafte Schwierigkeiten brachte sich Ruth ursprünglich dadurch, daß sie Fanpost beantwortete; gerade auf die schmeichelhaften Briefe durfte man nicht eingehen. Besonders gefährlich waren die, deren Absender nicht nur behaupteten, ein bestimmtes Buch von Ruth Cole habe ihnen ausgezeichnet gefallen, sondern hinzufügten, es habe ihr Leben verändert.
Es gab ein durchgängiges Schema: Der Briefschreiber erklärte zunächst einmal, er finde eines oder mehrere von Ruths Büchern einfach hinreißend; für gewöhnlich identifizierte er oder sie sich auch mit einer oder mehreren Romanfiguren. Ruth schrieb daraufhin zurück und bedankte sich für den Brief. Wenn die Person zum zweitenmal schrieb, hatte sie ein konkretes Anliegen. Nicht selten war dem zweiten Brief ein Manuskript beigelegt. (»Ich fand Ihr Buch einfach wunderbar, und ich bin sicher, Sie werden meines auch wunderbar finden« – so etwas in der Art.) Im allgemeinen schlug die Person ein Treffen vor. Im dritten Brief gab sie sich dann tief gekränkt, weil Ruth auf den zweiten Brief nicht geantwortet hatte. Ob Ruth diesen dritten Brief beantwortete oder nicht, der vierte war in jedem Fall erbittert; oft war es der erste von vielen erbitterten Briefen. Immer das gleiche Schema.
In gewisser Weise fand Ruth ihre ehemaligen Fans – diejenigen, die enttäuscht waren, weil sie sie nicht persönlich kennenlernen konnten – beängstigender als die unsympathischen Zeitgenossen, die ihre Bücher von Anfang an verabscheuten. Um einen Roman zu schreiben, braucht man Ruhe und Abgeschiedenheit. Schreiben schreit förmlich nach einem zurückgezogenen Leben. Im Gegensatz dazu ist das Erscheinen eines Buches ein beunruhigend öffentliches Ereignis. Und mit diesem öffentlichen Teil des Bücherschreibens war Ruth noch nie gut zurecht gekommen.
»Guten Morgen«, flüsterte ihr die Stewardeß ins Ohr. »Das Frühstück …« Ruth war ganz erschlagen von ihren Träumen, aber sie hatte Hunger, und der Kaffee duftete.
Ein Herr auf der anderen Seite des Ganges rasierte sich. Er saß über sein Frühstück gebeugt und blickte angestrengt in einen kleinen Taschenspiegel. Sein elektrischer Rasierapparat summte wie ein Insekt an einem Fliegengitter. Ausgebreitet unter den frühstückenden Passagieren lag Bayern, und es wurde grüner, je mehr sich die Wolken verzogen; die ersten Strahlen der Morgensonne verscheuchten die Frühnebel. In der Nacht hatte es geregnet; die Rollbahn würde noch naß sein, wenn das Flugzeug in München landete.
Ruth mochte Deutschland und ihren deutschen Verlag. Es war ihre dritte Promotion-Tour, und wie jedesmal war sie zuvor genau über den Ablauf der Reise unterrichtet worden. Und die Journalisten, die sie interviewten, hatten ihr Buch auch wirklich gelesen.
An der Hotelrezeption wurde sie trotz der frühen Stunde bereits erwartet; ihr Zimmer war hergerichtet. Der Verleger hatte Blumen geschickt – und Fotokopien der ersten Rezensionen, die ohne Ausnahme positiv waren. Ruth sprach nicht gut Deutsch, aber es reichte aus, um die Buchbesprechungen zu verstehen. In Exeter und Middlebury hatte sie als einzige Fremdsprache Deutsch gelernt. Und die Leute hier schienen es ihr hoch anzurechnen, daß sie sich die Mühe machte, auch wenn sie mehr schlecht als recht Deutsch sprach.
An diesem ersten Tag würde sie sich dazu zwingen, bis Mittag aufzubleiben. Dann wollte sie einen Mittagsschlaf halten, zwei oder drei Stunden, um den Jetlag zu überwinden. Die erste Lesung fand noch am selben Abend statt – etwas außerhalb, in Freising. Im weiteren Verlauf des Wochenendes, nach den vereinbarten Interviews, sollte sie dann nach Stuttgart gefahren werden. Alles war gut organisiert.
Besser als jemals zu Hause! dachte Ruth, als die Dame an der Rezeption sagte: »Ach, da ist noch ein Fax für Sie.« Der böse Brief von der erzürnten Witwe! Ruth hatte ihn ganz vergessen.
»Willkommen in Deutschland!« rief ihr die Dame von der Rezeption nach, als Ruth sich umdrehte und dem Hotelpagen zum Aufzug folgte.
»Meine Liebe«, begann der Brief der Witwe, »diesmal sind Sie zu weit gegangen. Mag sein, daß Sie, wie es in einer Ihrer Rezensionen steht, über das ›satirische Talent‹ verfügen, ›in einem Buch eine ungewöhnliche Anzahl gesellschaftlicher Mißstände und menschlicher Schwächen aufmarschieren zu lassen‹ und ›die
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