Witwe für ein Jahr (German Edition)
zahllosen moralischen Verderbtheiten unserer Zeit in das Leben einer einzigen Figur zu packen‹. Aber nicht alles in unserem Leben ist Stoff für eine Komödie; es gibt Tragödien, die sich einer humorvollen Interpretation widersetzen. Und diesmal sind Sie zu weit gegangen.
Ich war fünfundfünfzig Jahre lang verheiratet«, schrieb die Witwe weiter. (Ihr verblichener Gatte war bestimmt Leichenbestatter, dachte Ruth.) »Als mein Mann starb, war mein Leben zu Ende. Er bedeutete mir alles auf dieser Welt. Als ich ihn verlor, verlor ich alles. Und was ist mit Ihrer Mutter? Glauben Sie vielleicht, sie hat es geschafft, dem Tod Ihrer Brüder eine komische Seite abzugewinnen? Glauben Sie vielleicht, die Frau, die Sie und Ihren Vater verlassen hat, hat das getan, um ein fröhliches, unbeschwertes Leben zu führen?« (Wie kann sie es wagen, dachte Ruth.)
»Sie schreiben über Abtreibung, Geburt und Adoption, dabei waren Sie nie schwanger. Sie schreiben über eine geschiedene Frau und eine Witwe, dabei waren Sie nicht einmal verheiratet. Sie schreiben darüber, wann eine Witwe gefahrlos wieder in die Welt zurückkehren kann, aber so etwas wie eine Witwe für ein Jahr gibt es nicht. Ich werde für den Rest meines Lebens Witwe sein!
Horace Walpole hat einmal geschrieben: ›Die Welt ist eine Komödie für den, der denkt, eine Tragödie für den, der fühlt.‹ Aber das wirkliche Leben ist tragisch für den, der denkt und fühlt; vergnüglich ist es nur für den, der Glück gehabt hat.«
Ruth sprang ans Ende des Briefes und dann wieder zurück an den Anfang, konnte aber keine Absenderadresse entdecken; die erzürnte Witwe hatte nicht einmal mit ihrem Namen unterschrieben.
Der Brief endete wie folgt: »Alles, was mir geblieben ist, sind Gebete. Ich werde Sie in meine Gebete einschließen. Was sagt es über Sie aus, daß Sie in Ihrem Alter noch nie verheiratet waren? Nicht ein einziges Mal? Ich werde für Sie beten, daß Sie heiraten. Vielleicht werden Sie ein Kind haben, vielleicht auch nicht. Mein Mann und ich haben uns so geliebt, daß wir nie Kinder wollten, denn Kinder hätten womöglich alles verdorben. Vor allem werde ich darum beten, daß Sie Ihren Mann aufrichtig lieben – und daß Sie ihn verlieren. Ich werde darum beten, daß Sie für den Rest Ihres Lebens Witwe werden. Dann werden Sie begreifen, wieviel Falsches Sie über das wirkliche Leben geschrieben haben.«
Unterschrieben hatte die Frau statt mit ihrem Namen mit: Eine Witwe für den Rest ihres Lebens. Dann folgte ein Postscriptum, bei dem es Ruth kalt den Rücken hinunterlief: »Ich habe viel Zeit zum Beten.«
Ruth schickte Allan ein Fax nach New York, um zu erfahren, ob Name oder Adresse der erzürnten Witwe auf dem Kuvert gestanden hatten oder, falls nicht, in welcher Stadt oder in welchem Ort der Brief aufgegeben worden war. Aber die Antwort war so beunruhigend wie der Brief. Dieser Brief war direkt bei Random House in der East 50th Street abgegeben worden. Der Portier konnte sich weder an die Frau erinnern, die den Brief in die Lektoratsetage gebracht hatte, noch daran, ob es überhaupt eine Frau gewesen war.
Wenn die betende Witwe fünfundfünfzig Jahre lang verheiratet gewesen war, mußte sie Mitte Siebzig sein – wenn nicht über achtzig oder gar neunzig! Vielleicht hatte sie wirklich viel Zeit zum Beten, aber viel Zeit zum Leben blieb ihr nicht mehr.
Ruth schlief fast den ganzen Nachmittag. So beunruhigend war der Brief der geifernden Witwe nun auch wieder nicht. Und vielleicht war es nur gerecht: Wenn ein Buch überhaupt etwas taugte, mußte irgend jemand es als Ohrfeige empfinden. Ich werde mir meine Reise doch nicht von dem Brief einer wütenden Alten verderben lassen, beschloß Ruth.
Sie wollte spazierengehen, wollte ein paar Postkarten verschicken, wollte Tagebuch schreiben. Ruth war fest entschlossen, sich in Deutschland zu erholen, außer auf der Frankfurter Buchmesse, wo man unmöglich zur Ruhe kommen konnte. Ihre Tagebucheinträge und ihre Postkarten lassen darauf schließen, daß ihr das bis zu einem gewissen Grad gelang. Sogar in Frankfurt!
Ruths Tagebuch und diverse Postkarten
Keine schlechte Lesung in Freising, aber entweder war ich lahmer als erwartet oder das Publikum. Anschließend Abendessen in einem ehemaligen Kloster mit schönem Deckengewölbe; habe zuviel getrunken.
In Deutschland frappiert mich – gerade in einer Umgebung wie der Hotelhalle des Vier Jahreszeiten – der Kontrast zwischen den teuer gekleideten
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