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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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vor meine beste Freundin. Du bist nach wie vor mein Vater.«
    »Okay, okay, ich hab’s kapiert«, sagte ihr Vater. Er versuchte, sich die Tränen mit dem Ärmel seines alten Flanellhemds abzuwischen. Ruth liebte dieses Hemd, das er schon getragen hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Trotzdem fühlte sie sich versucht zu sagen, er solle beide Hände am Steuer lassen.
    Statt dessen rief sie ihm in Erinnerung, mit welcher Fluggesellschaft sie flog und nach welchem Terminal er Ausschau halten mußte. »Du kannst doch sehen, oder?« fragte sie. »Wir müssen zur Delta.«
    »Ich kann sehen, ich kann sehen. Ich weiß auch, daß wir zur Delta müssen«, sagte er. »Und ich verstehe, worauf du hinauswolltest. Ich hab’s kapiert.«
    »Ich glaube, du wirst es nie kapieren«, sagte Ruth. »Sieh mich nicht an, noch stehen wir nicht!«
    »Es tut mir leid, es tut mir furchtbar leid, Ruthie …«
    »Siehst du das Schild vom Abflug-Terminal?« fragte sie.
    »Ja, ich sehe es.« Er sagte es genau so, wie er »Gut gemacht, Ruthie« gesagt hatte, nachdem sie ihn in seiner verdammten Scheune besiegt hatte.
    Als der Wagen endlich stand, sagte Ruth: »Gut gefahren, Daddy.« Hätte sie damals gewußt, daß es ihre letzte Unterhaltung sein würde, hätte sie vielleicht versucht, die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen. Aber sie sah, daß sie ihn dieses eine Mal wirklich besiegt hatte. Ihr Vater war so vernichtend geschlagen, daß sie ihn nicht dadurch hätte aufrichten können, daß sie dem Gespräch einfach eine andere Wendung gab. Außerdem machte ihr der Schmerz an jener ungewohnten Stelle in ihrem Innern noch immer zu schaffen.
    Rückblickend würde sie sich damit begnügen müssen, daß sie ihren Vater zum Abschied wenigstens geküßt hatte.
    Bevor Ruth ins Flugzeug stieg, rief sie Allan aus dem Delta Crown Room an. Er hörte sich am Telefon besorgt an oder so, als spreche er nicht ganz offen mit ihr. Es gab ihr einen Stich, sich vorzustellen, was er von ihr denken würde, sollte er jemals von Scott Saunders erfahren. (Er erfuhr nie von ihm.)
    Hannah hatte Allans Nachricht erhalten; sie hatte zurückgerufen, aber er war kurz angebunden gewesen. Er versicherte Hannah, es sei nichts passiert, er habe mit Ruth gesprochen und es gehe ihr »gut«. Hannah hatte vorgeschlagen, sich mit ihm zum Lunch zu treffen oder zu einem Drink – »nur um über Ruth zu reden« –, aber Allan hatte ihr erklärt, er freue sich darauf, sie zusammen mit Ruth zu sehen, sobald diese aus Europa zurück sei.
    »Ich spreche nie über Ruth«, erklärte er.
    Noch nie war Ruth so nahe dran gewesen, Allan zu sagen, daß sie ihn liebte, aber aus seiner Stimme hörte sie noch immer die Besorgnis, und das beunruhigte sie; als Lektor hatte er mit nichts hinterm Berg gehalten.
    »Was ist los?« fragte Ruth.
    »Na ja …«, begann er und hörte sich an wie ihr Vater, »eigentlich ist es nichts. Es kann warten.«
    »Sag es mir.«
    »Da war ein Brief in deiner Fanpost. Normalerweise liest sie niemand, sondern wir schicken sie einfach nach Vermont weiter. Aber dieser Brief war an mich adressiert, das heißt an deinen Lektor. Also habe ich ihn gelesen. Aber eigentlich ist er an dich gerichtet.«
    »Werde ich wieder mal beschimpft?« fragte Ruth. »Das bin ich gewohnt. Ist das alles?«
    »Vermutlich schon«, sagte Allan. »Aber er ist beunruhigend. Ich finde, du solltest ihn lesen.«
    »Das werde ich, sobald ich zurück bin.«
    »Vielleicht könnte ich ihn dir ins Hotel faxen«, schlug Allan vor.
    »Ist es ein Drohbrief? Von einem penetranten Fan?« fragte sie. Bei dem Gedanken an diese Kletten lief es ihr kalt den Rücken hinunter.
    »Nein, er ist von einer Witwe, einer erzürnten Witwe.«
    »Ach so.« Damit hatte sie gerechnet. Nachdem sie über Abtreibung geschrieben hatte, ohne selbst eine mitgemacht zu haben, bekam sie wütende Briefe von Frauen, die abgetrieben hatten; als sie über Geburt geschrieben hatte, ohne selbst ein Kind zur Welt gebracht zu haben, oder über Scheidung, ohne selbst geschieden zu sein (oder auch nur verheiratet) … Sie hatte immer solche Briefe bekommen. Von Leuten, die bestritten, daß Erfundenes realistisch sei, oder hartnäckig behaupteten, Erfundenes sei nicht so realistisch wie Selbsterlebtes; immer dieselbe alte Leier. »Herrgott noch mal, Allan«, sagte Ruth, »du wirst dir doch keine Sorgen machen, weil mir schon wieder eine Leserin erklärt, daß ich über das schreiben soll, was ich aus eigener Erfahrung kenne.«
    »Bei der

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