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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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da ist es ein bißchen anders«, antwortete Allan.
    »Na gut, dann fax mir den Brief.«
    »Ich möchte dich nicht beunruhigen.«
    »Dann fax ihn nicht!« sagte Ruth. Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke: »Handelt es sich um eine penetrante Witwe oder nur um eine erzürnte?«
    »Hör zu, ich faxe dir den Brief«, sagte Allan.
    »Steht was drin, was man der Polizei zeigen sollte, so was in der Richtung?« wollte Ruth wissen.
    »Nein, nein, eigentlich nicht, glaube ich jedenfalls.«
    »Fax ihn mir einfach.«
    »Also gut. Wenn du ankommst, ist er da«, versprach Allan. »Bon voyage!«
    Woher kam es, daß Frauen mit Abstand die schlimmsten Leser waren, wenn es um Themen ging, die ihr eigenes Leben betrafen? überlegte Ruth. Was brachte eine Frau dazu, sich einzubilden, daß ihre Vergewaltigung (ihre Fehlgeburt, ihre Ehe, ihre Scheidung, der Verlust ihres Kindes oder Ehemanns) die einzig allgemeingültige Erfahrung war, die es gab? Oder lag es nur daran, daß Ruths Leser eben vorwiegend Frauen waren und daß Frauen, die Leserbriefe an Autoren schreiben und ihnen ihre eigenen Katastrophengeschichten erzählen, selbst völlig im Arsch sind?
    Ruth saß in der exklusiven Delta-Lounge und hielt sich ein Glas Eiswasser an ihr blaues Auge. Wahrscheinlich lag es an der Kombination aus geistesabwesendem Gesichtsausdruck und ihrer unübersehbaren Blessur, daß sich eine Mitreisende, die offensichtlich angetrunken war, bemüßigt fühlte, sie anzusprechen. Sie war etwa so alt wie Ruth und hatte ein bleiches, abgespanntes, verhärtetes Gesicht. Sie war klapperdürr, eine Kettenraucherin mit heiserer Stimme und einem vom Alkohol verwischten Südstaatenakzent.
    »Egal, wer es war, Herzchen, du bist ohne ihn besser dran«, erklärte ihr die Frau.
    »Es ist eine Squashverletzung«, entgegnete Ruth.
    »Dann hat er dich wohl mit dem Schläger gerammelt«, nuschelte die Frau.
    Im Flugzeug trank Ruth rasch zwei Bier. Als sie pinkeln mußte, stellte sie erleichtert fest, daß es nicht mehr so weh tat. Außer ihr saßen nur noch drei Passagiere in der ersten Klasse, und der Platz neben ihr war leer. Sie wies die Stewardeß an, ihr kein Abendessen zu servieren, bat aber darum, zum Frühstück geweckt zu werden.
    Ruth klappte ihre Rückenlehne nach hinten; sie deckte sich mit der dünnen Decke zu und versuchte, ihren Kopf bequem auf das kleine Kissen zu betten. Sie würde auf dem Rücken oder auf der linken Seite schlafen müssen. Ihre rechte Gesichtshälfte war zu empfindlich, als daß sie darauf hätte liegen können. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt Hannah. Sie hatte recht gehabt: Ich bin wirklich zu streng mit meinem Vater. (Schließlich ist er, wie es im Lied heißt, nur ein Mann.)
    Wenig später schlief Ruth. Sie schlief die ganze Strecke bis nach Deutschland und versuchte vergebens, nicht zu träumen.
    Eine Witwe für den Rest ihres Lebens

    Es war Allans Schuld. Ruth hätte nie die ganze Nacht von anderen Lesern geträumt, die ihr böse Briefe schrieben und sie gelegentlich penetrant verfolgten, wenn Allan ihr nicht von der erzürnten Witwe erzählt hätte.
    Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie ihre gesamte Fanpost beantwortete. Sie bekam ungeheuer viele Briefe, vor allem auf ihren ersten Roman hin, aber sie machte sich die Mühe. Auf die gehässigen Briefe freilich reagierte sie nicht; war der Ton eines Briefes besonders unverschämt, warf Ruth ihn weg, ohne ihn zu beantworten. (»Weite Teile Ihres Buches habe ich, ungeachtet Ihrer unvollständigen Sätze, immerhin mit gelindem Vergnügen gelesen, aber die wiederholte Inkonsequenz bei der Verwendung mehrerer Kommata hintereinander und Ihr fehlerhafter Gebrauch des Wortes ›hoffentlich‹ haben meine Geduld denn doch überstrapaziert. Auf Seite 385 schließlich hat mich das geradezu ungeheuerliche Beispiel für Ihren Einkaufslisten-Stil dazu bewogen, das Buch aus der Hand zu legen und mich nach einer besseren Lektüre umzusehen.«) Wer würde sich schon die Mühe machen, einen solchen Brief zu beantworten?
    Doch die Einwände gegen Ruths Romane bezogen sich zumeist auf deren Inhalt. (»Was ich an Ihren Büchern nicht ausstehen kann, ist, daß Sie alles zu einer Sensation aufbauschen. Vor allem übertreiben Sie das Unanständige.«)
    Was das sogenannte Unanständige betraf, wußte Ruth, daß sie bei einigen ihrer Leser schon aneckte, wenn sie sich überhaupt damit befaßte, auch ohne es zu übertreiben. Sie war nicht einmal ganz sicher, ob sie es wirklich übertrieb. Ihre

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