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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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immer, wenn mir langweilig ist«, erklärte sie Ruth, als diese hereinkam, und gestikulierte mit ihrer Zigarette.
    »Ich habe Ihnen ein Buch mitgebracht – auch eine Möglichkeit, sich zu beschäftigen, wenn einem langweilig ist«, sagte Ruth. Sie hatte die englische Ausgabe von Nichts für Kinder mitgebracht. Rooie sprach so hervorragend Englisch, daß die holländische Übersetzung eine Beleidigung gewesen wäre. Ruth wollte ihr eine Widmung hineinschreiben, hatte das Buch aber noch nicht einmal signiert, weil sie nicht wußte, wie man den Namen Rooie schrieb.
    Rooie nahm das Buch entgegen. Sie drehte es um und betrachtete das Foto auf dem Schutzumschlag. Dann legte sie es auf den Tisch neben der Tür, wo sie ihre Schlüssel deponiert hatte. »Danke«, sagte sie. »Aber zahlen mußt du trotzdem.«
    Ruth öffnete ihre Handtasche und warf einen Blick in ihren Geldbeutel. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten; sie konnte die Zahlen auf den Scheinen nicht erkennen.
    Rooie hatte sich bereits auf das Handtuch in der Mitte des Bettes gesetzt. Sie hatte vergessen, die Vorhänge vor dem Fenster zuzuziehen, wahrscheinlich weil sie davon ausging, daß mit Ruth kein Sex stattfinden würde. Diesmal wirkte Rooie recht sachlich und nüchtern, was darauf schließen ließ, daß sie es aufgegeben hatte, Ruth zu verführen. Sie hatte sich damit abgefunden, daß Ruth wirklich nur mit ihr reden wollte.
    »Das war ein süßer Knabe, mit dem ich dich da gesehen habe«, sagte sie zu Ruth. »Ist das dein Freund oder dein Sohn?«
    »Weder noch«, antwortete Ruth. »Er ist nicht jung genug, um mein Sohn zu sein. Es sei denn, ich hätte ihn mit vierzehn oder fünfzehn bekommen.«
    »Wäre nicht das erste Mal, daß jemand in diesem Alter ein Kind bekommt«, sagte Rooie. Da bemerkte sie die offenen Vorhänge und stand vom Bett auf. »Er war jung genug, um mein Sohn zu sein«, fügte sie hinzu. Als sie die Vorhänge zuzog, schien ihr etwas oder jemand auf der Bergstraat aufzufallen. Rooie machte die Vorhänge nicht ganz zu. Bevor sie an die Tür ging, drehte sie sich zu Ruth um und flüsterte: »Nur einen Augenblick …« Dann öffnete sie die Tür einen Spaltbreit.
    Ruth hatte noch nicht in dem zum Blasen geeigneten Sessel Platz genommen; sie stand in dem düsteren Zimmer, eine Hand auf der Sessellehne, als sie draußen auf der Straße eine Männerstimme etwas auf englisch sagen hörte.
    »Soll ich später wiederkommen? Oder soll ich warten?« fragte der Mann. Er sprach Englisch mit einem Akzent, den Ruth nicht genau einordnen konnte.
    »Nur einen Augenblick«, sagte Rooie. Sie schloß die Tür. Dann zog sie die Vorhänge ganz zu.
    »Soll ich später wiederkommen?« flüsterte Ruth, aber Rooie trat neben sie und legte ihr die Hand auf den Mund.
    »Na, wenn das kein perfektes Timing ist.« (Die Prostituierte flüsterte ebenfalls.) »Hilf mir, die Schuhe umzudrehen.« Rooie kniete sich vor den Schrank und drehte die Schuhe mit den Spitzen nach außen. Ruth stand wie erstarrt neben dem Sessel. Ihre Augen hatten sich noch nicht an das schwache Licht gewöhnt; sie sah noch immer nicht gut genug, um die Scheine für Rooie abzählen zu können.
    »Das Geld kannst du mir später geben«, flüsterte Rooie. »Beeil dich und hilf mir. Wie es scheint, ist er nervös, vielleicht macht er so was zum erstenmal. Er wartet bestimmt nicht den ganzen Tag.«
    Ruth kniete sich neben die Prostituierte; ihre Hände zitterten, als sie den ersten Schuh, den sie in die Hand nahm, fallen ließ. »Laß mich das machen«, sagte Rooie ungehalten. »Stell dich einfach in den Schrank. Und beweg dich ja nicht! Die Augen darfst du bewegen«, fügte sie hinzu. »Aber nur die Augen.«
    Rooie ordnete die Schuhe rechts und links neben Ruths Füßen an. Ruth hätte sie aufhalten können; sie hätte etwas sagen können, aber sie flüsterte nicht einmal. Später glaubte sie – etwa vier oder fünf Jahre lang –, daß sie den Mund nicht aufgemacht hatte, weil sie befürchtete, Rooie könnte von ihr enttäuscht sein. Ähnlich hatte sie als Kind auf Herausforderungen reagiert. Aber eines Tages würde sie begreifen, daß die Angst, als Feigling dazustehen, der schlechteste Beweggrund ist, um etwas zu tun.
    Ruth bereute sogleich, daß sie den Reißverschluß ihrer Jacke nicht aufgemacht hatte; im Schrank war es furchtbar stickig, aber Rooie hatte den Freier bereits in ihr rotes Zimmerchen gelassen. Ruth wagte sich nicht zu bewegen, und den

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