Witwe für ein Jahr (German Edition)
Hustenreiz; hinten im Hals begann es verräterisch zu kribbeln.
Der Maulwurfmann richtete sich langsam auf und ließ seinen Blick prüfend über sämtliche Spiegel in dem roten Zimmer gleiten. Ruth wußte sehr genau, was der Mörder gehört zu haben glaubte: Er hatte das Geräusch von jemandem gehört, der versucht, kein Geräusch zu machen – genau das hatte er gehört. Und deshalb hielt er die Luft an, hörte zu keuchen auf und sah sich um. Dabei zuckte seine Nase, so daß es Ruth vorkam, als wollte er nach ihr schnüffeln.
Um sich zu beruhigen, wandte sie den Blick von ihm ab und richtete ihn auf den Spiegel gegenüber dem Schrank. Sie versuchte sich in dem schmalen Spalt des geteilten Vorhangs zu sehen; unter den Schuhen, deren Spitzen unter dem Vorhangsaum hervorlugten, machte sie ihre eigenen Schuhe ausfindig. Nach einer Weile konnte sie den Saum ihrer schwarzen Jeans ausmachen. Wenn sie sehr genau hinsah, konnte sie sogar ihre Füße erkennen. Und ihre Knöchel …
Plötzlich begann der Mörder zu husten; er gab schauerlich krächzende Sauggeräusche von sich, die seinen ganzen Körper erschütterten. Bis er endlich zu husten aufhörte, hatte Ruth ihre eigene Atmung wieder unter Kontrolle.
Das Geheimnis absoluter Bewegungslosigkeit ist absolute Konzentration. »Wenn du in Zukunft irgendwann einmal tapfer sein mußt«, hatte Eddie O’Hare zu ihr gesagt, als sie ein kleines Mädchen war, »brauchst du dir bloß deine Narbe anzusehen.« Aber Ruth konnte ihren rechten Zeigefinger nicht ansehen, ohne entweder den Kopf oder die Hand zu bewegen. Dafür konzentrierte sie sich auf Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen . Von den Geschichten ihres Vaters, die sie samt und sonders auswendig kannte, kannte sie diese am besten. Darin kam auch ein Maulwurfmann vor.
»Stell dir einen Maulwurf vor, doppelt so groß wie ein Kind, aber halb so groß wie die meisten Erwachsenen. Dieser Maulwurf ging aufrecht, wie ein Mensch, und deshalb nannte man ihn den Maulwurfmann. Er trug eine ausgebeulte Hose, die seinen Schwanz verbarg, und alte Tennisschuhe, die es ihm erlaubten, sich schnell und leise fortzubewegen.«
Die erste Illustration zeigt Ruth und ihren Vater, wie sie gerade zur Tür des Hauses in Sagaponack hereinkommen; sie halten sich bei der Hand, als sie über die Schwelle in die sonnendurchflutete Diele treten. Auf den Garderobenständer in der Ecke achten sie überhaupt nicht. Dahinter steht, zum Teil verdeckt, der große Maulwurf.
»Die Hauptbeschäftigung des Maulwurfmannes bestand darin, kleine Mädchen zu jagen. Am liebsten fing er sie ein und nahm sie mit unter die Erde, wo er sie dann ein oder zwei Wochen lang festhielt. Den kleinen Mädchen gefiel es gar nicht unter der Erde. Wenn der Maulwurfmann sie endlich gehen ließ, hatten sie Schmutz in den Ohren und Schmutz in den Augen und mußten sich zehn Tage lang jeden Tag die Haare waschen, bis sie nicht mehr wie Erdwürmer rochen.«
Auf der zweiten Illustration sieht man im Vordergrund den Maulwurfmann, der sich unter einer Stehlampe im Eßzimmer versteckt, während Ruth und ihr Vater zu Abend essen. Er hat einen gebogenen Kopf, der spitz zuläuft wie ein Spaten, und keine Ohrmuscheln. Die fünf breiten, mit Krallen versehenen Zehen lassen seine Vorderfüße aussehen wie Paddel. Seine Nase ist, wie die Nase des Sternnasenmaulwurfs, von zweiundzwanzig hautfarbenen, tentakelartigen Fortsätzen umgeben. (Die rosige Hautfarbe der sternförmigen Nase des Maulwurfmanns ist die einzige Farbe außer Braun oder Schwarz, die Ted Cole jemals auf einer seiner Zeichnungen verwendet hat.)
»Der Maulwurfmann war blind, und seine Ohren waren so klein, daß sie in seinem Kopf Platz hatten. Er konnte die kleinen Mädchen nicht sehen, und hören konnte er sie auch kaum. Aber er konnte sie mit seiner sternförmigen Nase riechen, und besonders deutlich konnte er sie riechen, wenn sie allein waren. Sein Fell war wie Samt und ließ sich ohne Widerstand in alle Richtungen streichen. Wenn ein kleines Mädchen zu dicht neben ihm stand, konnte es der Versuchung nicht widerstehen, dieses Fell zu streicheln. Und dann wußte der Maulwurfmann natürlich, daß es da war.
Als Ruthie und ihr Vater mit dem Essen fertig waren, sagte der Vater: ›Wir haben kein Eis mehr zum Nachtisch. Ich gehe in den Laden und hole welches, wenn du inzwischen den Tisch abräumst.‹
›Einverstanden, Daddy‹, sagte Ruthie.
Doch das bedeutete, daß sie mit dem Maulwurfmann allein
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