Witwe für ein Jahr (German Edition)
würde nie zu Ruths Lieblingsgeschichten gehören; ihr Vater hatte ihr diese Geschichte nicht erzählt, und so dauerte es ein paar Jahre, bis Ruth alt genug war, um sie selbst zu lesen. Sie fand sie gräßlich.
Das Buch enthielt eine geschmackvolle, aber dennoch drastische Illustration von einem ungeborenen Kind im Mutterleib.
»Es war einmal ein kleiner Junge, der nicht wußte, ob er auf die Welt kommen wollte«, begann die Geschichte. »Seine Mutter wußte auch nicht, ob sie ihn auf die Welt bringen wollte. Das lag daran, daß sie mit ihrem ungeborenen Jungen in einer Hütte in den Wäldern lebte, auf einer Insel in einem See – und ringsum gab es keine Menschenseele. In der Hütte gab es eine Tür im Boden. Der kleine Junge hatte Angst, weil er nicht wußte, was unter der Tür im Boden war, und seine Mutter hatte auch Angst. Einmal, vor langer Zeit, waren an Weihnachten Kinder zu Besuch gekommen, und diese Kinder hatten die Tür im Boden geöffnet und waren in dem Loch unter der Hütte verschwunden, und mit ihnen verschwanden auch alle Geschenke.
Die Mutter hatte einmal versucht, nach den Kindern zu sehen, doch als sie die Tür im Boden öffnete, hörte sie einen so schauerlichen Laut, daß ihre Haare schneeweiß wurden, wie die Haare von einem Gespenst. Und ein so fürchterlicher Geruch stieg ihr in die Nase, daß ihre Haut schrumpelig wurde wie eine Rosine. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis die Haut der Mutter wieder glatt wurde und ihre Haare nicht mehr weiß waren. Als sie die Tür im Boden öffnete, hatte sie auch schreckliche Dinge gesehen, die sie nie mehr wiedersehen wollte, etwa eine Schlange, die sich so klein zu machen vermochte, daß sie sich durch die Ritzen zwischen Tür und Boden zwängen konnte, auch wenn die Tür geschlossen war. Und dann wieder vermochte sie sich so groß zu machen, daß sie die Hütte auf dem Rücken tragen konnte, so als wäre sie eine Riesenschnecke und die Hütte ihr Schneckenhaus.« (Diese Illustration hatte Eddie Alpträume verursacht – nicht als Kind, sondern mit sechzehn!)
»Die anderen Dinge unter der Tür im Boden waren so schrecklich, daß man sie sich nur vorstellen kann.« (Von diesen schrecklichen Dingen gab es auch eine Illustration, die sich mit Worten nicht beschreiben läßt.)
»Und so kam es, daß sich die Mutter fragte, ob sie in einer Hütte im Wald, auf einer Insel in einem See, wo es ringsum keine Menschenseele gab, vor allem aber wegen der Dinge, die unter der Tür im Boden sein mochten, einen kleinen Jungen zur Welt bringen wollte. Dann dachte sie: Wieso nicht? Ich werde ihm einfach verbieten, die Tür im Boden aufzumachen!
Tja, eine Mutter kann so etwas leicht sagen, aber was war mit dem kleinen Jungen? Er wußte noch immer nicht, ob er in eine Welt hineingeboren werden wollte, in der es eine Tür im Boden gab und ringsum keine Menschenseele. Freilich gab es auch manches Schöne in den Wäldern und auf der Insel und im See.« (An dieser Stelle folgte eine Illustration mit einer Eule und Enten, die ans Ufer der Insel schwammen, und einem Seetaucherpärchen, das auf dem stillen Wasser des Sees schnäbelte.)
»Ich riskiere es einfach, dachte der kleine Junge. Und so kam er auf die Welt, und er war sehr glücklich. Seine Mutter war auch wieder glücklich, wenngleich sie den kleinen Jungen mindestens einmal am Tag ermahnte: ›Daß du mir ja nie, niemals, auf gar keinen Fall, die Tür im Boden aufmachst!‹ Aber natürlich war er nur ein kleiner Junge. Wärst du dieser kleine Junge, würdest du diese Tür im Boden etwa nicht aufmachen wollen?«
Und das ist das Ende der Geschichte, dachte Eddie – ohne sich jemals klarzumachen, daß in der wahren Geschichte der kleine Junge ein kleines Mädchen war. Es hieß Ruth, und seine Mutter war nicht glücklich. Denn es gab noch eine andere Art von Tür im Boden, von der Eddie nichts ahnte – noch nicht.
Die Fähre passierte die Durchfahrt Plum Gut. Orient Point war jetzt deutlich zu sehen.
Eddie sah sich die Fotos von Ted Cole auf den Schutzumschlägen noch einmal genau an. Das auf der Tür im Boden war jüngeren Datums als das auf der Maus, die in der Wand krabbelt . In seinen Augen war Mr. Cole auf beiden Autorenfotos ein attraktiver Mann, worunter Eddie mit seinen sechzehn Jahren einen Mann im fortgeschrittenen Alter von fünfundvierzig verstand, der noch immer imstande war, Herzen und Gemüter der Damenwelt zu erregen. Bestimmt würde so ein Mann in einer Menschenmenge in Orient Point auffallen.
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