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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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zur Sache. Ruth freilich brauchte nie dort zu wohnen.
    Dem 1958 in den Hamptons üblichen Maklerjargon zufolge handelte es sich um ein sogenanntes Kutscherhaus; in Wirklichkeit war es ein stickiges Zweizimmerapartment über einer Doppelgarage, das hastig zusammengezimmert und billig möbliert war. Es lag an der Bridge Lane in Bridgehampton, höchstens zwei Meilen vom Haus der Coles an der Parsonage Lane in Sagaponack entfernt, und erfüllte nachts den Zweck, daß Ted und Marion weit genug voneinander entfernt schlafen konnten. Tagsüber diente es dem Schriftstellerassistenten als Arbeitsplatz.
    Die Küche im Kutscherhaus wurde nie zum Kochen benutzt; auf dem Küchentisch – ein Eßzimmer gab es nicht – stapelten sich unbeantwortete Post und angefangene Briefe. Tagsüber benutzte Eddie ihn als Schreibtisch, und in den Nächten, die Ted in der Wohnung verbrachte, setzte er sich hier an die Schreibmaschine. Die Küchenvorräte bestanden aus allen möglichen Alkoholika, außerdem Kaffee und Tee – mehr war nicht da. Im Wohnzimmer, das lediglich eine Erweiterung der Küche darstellte, standen ein Fernseher und eine Couch, auf der Ted in regelmäßigen Abständen einnickte, während er sich ein Baseballspiel ansah; er schaltete den Fernseher nur an, wenn Ballspiele oder Boxkämpfe übertragen wurden. Marion sah sich Spätfilme an, wenn sie nicht schlafen konnte.
    Der Schrank im Schlafzimmer enthielt jeweils nur das Nötigste an Kleidung. In diesem Schlafzimmer wurde es nie richtig dunkel; es hatte ein Oberlicht ohne Blende, das zudem nicht dicht war. Um das Licht auszusperren und auch um das Leck abzudichten, heftete Marion mit Reißzwecken ein Handtuch an den Rahmen, doch wenn Ted hier übernachtete, nahm er das Handtuch ab. Ohne das einfallende Licht hätte er womöglich nicht gewußt, wann es Zeit zum Aufstehen war; eine Uhr gab es nicht, und Ted ging oft ins Bett, ohne zu wissen, wann und wo er seine Armbanduhr abgelegt hatte.
    Das Mädchen, das im Haus der Coles saubermachte, kam auch ins Kutscherhaus, allerdings nur, um staubzusaugen und die Bettwäsche zu wechseln. Hier roch es ständig nach Geflügel und Salzlake, vermutlich weil sich ganz in der Nähe die Brücke befand, an der die Krabbenfischer nach Krabben fischten – als Köder benutzten sie meist rohes Hühnerfleisch. Und weil der Vermieter in der Doppelgarage seine Autos unterstellte, ließen sich sowohl Ted und Marion als auch Eddie darüber aus, daß ständig Motoröl- und Benzingestank in der Luft lag.
    Sofern irgend etwas diese Wohnung erträglicher machte, wenn auch nur ein bißchen, dann die wenigen Fotografien von Thomas und Timothy, die Marion hier aufgehängt hatte. Sie stammten aus Eddies Gästezimmer im großen Haus und dem angrenzenden Bad, das ihm ebenfalls zur Verfügung stand. (Eddie hätte unmöglich ahnen können, daß die wenigen Bilderhaken an den kahlen Wänden Vorboten der unendlich vielen Bilderhaken waren, die bald zu sehen sein würden. Ebensowenig hätte er voraussagen können, wie viele Jahre ihn der Anblick der hellen Rechtecke verfolgen würde, die die Fotos der toten Jungen auf den Tapeten hinterlassen hatten.
    Allerdings hingen noch immer einige Fotos von Thomas und Timothy in Eddies Gästezimmer und dem angrenzenden Bad; er sah sie sich oft an. Am häufigsten jedoch betrachtete er ein Foto, auf dem vor allem Marion zu sehen war. Es war in einem Pariser Hotelzimmer bei Morgensonne aufgenommen worden, und Marion liegt unter einem altmodischen Federbett; sie sieht zerzaust, verschlafen und glücklich aus. Neben ihr auf dem Kopfkissen liegt ein nackter Kinderfuß – man sieht nur ein Stück des Beins, das aus einem Schlafanzug ragt und unter dem Plumeau verschwindet. Am anderen Ende des Bettes ist noch ein nackter Fuß zu sehen, der einem zweiten Kind gehören muß – nicht nur wegen der großen Entfernung zwischen den beiden Füßen, sondern weil er in einer anderen Schlafanzughose steckt.
    Eddie konnte nicht wissen, daß sich dieses Hotelzimmer in Paris befand – es handelte sich um das einst so bezaubernde Hˆotel du Quai Voltaire, in dem die Coles gewohnt hatten, als Ted bei Erscheinen der französischen Übersetzung der Maus, die in der Wand krabbelt dort auf Promotion-Tour war. Trotzdem erkannte Eddie, daß das Bett und das übrige Mobiliar irgendwie fremdartig waren, wahrscheinlich europäisch. Und er vermutete, daß die nackten Füße Thomas und Timothy gehörten und daß Ted das Foto gemacht hatte.
    Man sieht

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