Witwe für ein Jahr (German Edition)
europäisches Paar kam auf ihn zu und fragte in stark akzentgefärbtem Englisch, ob er sie vorn an der Reling fotografieren würde. Sie seien auf der Hochzeitsreise, erklärten sie. Eddie erfüllte ihnen ihren Wunsch gern. Erst danach kam ihm der Gedanke, daß die Frau, da sie Europäerin war, womöglich unrasierte Achselhöhlen hatte. Doch unter ihrer langärmligen Jacke war das nicht zu sehen; und auch ob sie einen BH trug, konnte Eddie nicht feststellen.
Er kehrte zu seinem Gepäck zurück. Der kleine Koffer enthielt nur sein »Allzweck«-Sportsakko und seine Anzughemden und Krawatten; er wog kaum etwas, aber seine Mutter hatte gemeint, auf diese Weise kämen seine »guten« Sachen, wie sie dazu sagte, auf alle Fälle unzerknittert an. (Sie hatte den Koffer gepackt.) Alles andere befand sich im Matchsack – was er sonst an Kleidung hatte mitnehmen wollen, seine literarischen Notizbücher und ein paar Bücher, die Mr. Bennett (sein mit Abstand liebster Englischlehrer) ihm empfohlen hatte.
Eddie hatte nicht Ted Coles gesamtes Œuvre eingepackt. Schließlich hatte er es gelesen. Wozu es dann noch mitschleppen? Die einzigen Ausnahmen bildeten das O’Haresche Familienexemplar von Die Maus, die in der Wand krabbelt – Eddies Vater wollte unbedingt, daß Eddie es vom Autor signieren ließ – und das Kinderbuch, das Eddie am liebsten hatte. Wie Ruth mochte auch Eddie ein anderes Buch von Ted Cole lieber als das von der berühmten Maus in der Wand. Sein Lieblingsbuch hieß Die Tür im Boden, und ehrlich gesagt jagte es ihm eine Heidenangst ein. Er hatte nicht auf das Datum des Copyrights geachtet und sich daher nicht klargemacht, daß Die Tür im Boden Ted Coles erstes Buch nach dem Tod seiner Söhne war. Bestimmt war es ihm schwergefallen, es überhaupt zu schreiben; und ohne jeden Zweifel spiegelte es ein wenig von der entsetzlichen Situation wider, in der sich der Autor damals befand.
Hätte Teds Verleger damals nicht soviel Mitgefühl für ihn aufgebracht, wäre das Manuskript womöglich abgelehnt worden. Die Kritiker zeigten fast durchwegs kein Mitgefühl, doch das Buch verkaufte sich trotzdem ähnlich gut wie die anderen; Teds Beliebtheit schien nahezu unanfechtbar. Dot O’Hare hatte behauptet, einem Kind dieses Buch vorzulesen komme einer unzüchtigen Handlung gleich, die an Kindesmißbrauch grenze. Doch Eddie war hingerissen von der Tür im Boden, die sogar auf so manchem College-Campus eine Art Kultstatus genoß – so verwerflich war das Buch.
Eddie blätterte Die Maus, die in der Wand krabbelt durch. Er hatte das Buch so oft gelesen, daß er den Text fast auswendig konnte; jetzt sah er sich nur die Illustrationen an, die ihm besser gefielen als den meisten Rezensenten. In ihren Besprechungen hieß es bestenfalls, die Illustrationen seien »aufschlußreich« oder »nicht aufdringlich«. Häufiger wurden sie negativ kommentiert, allerdings auch nicht übertrieben negativ. (Etwa: »Die Illustrationen lenken zwar nicht von der Geschichte ab, sind aber auch keine Bereicherung. Sie lassen einen beim nächsten Buch auf mehr hoffen.«) Eddie gefielen sie trotzdem.
Da war es, das imaginäre Monster, das in der Wand krabbelt – »mit ohne Arme und ohne Beine«; es zieht sich mit den Zähnen vorwärts und rutscht auf seinem Fell dahin. Noch besser war die Illustration zu dem furchteinflößenden Kleid in Mummys Schrank, jenem Kleid, das zum Leben erwacht und vom Bügel herunterzuklettern versucht. Es ist ein Kleid mit einem Fuß, einem nackten Fuß, der unter dem Saum hervorspitzt; und aus einem Ärmel schiebt sich eine Hand, nur eine Hand samt Handgelenk. Besonders verwirrend waren die Konturen der einen Brust, die das Kleid auszufüllen schien, so, als nähme eine Frau (oder auch nur ein Teil von ihr) darin Gestalt an.
Nirgends in dem Buch gab es eine beruhigende Zeichnung von einer echten Maus in der Wand. Auf dem letzten Bild sieht man den kleineren der beiden Jungen, der in seinem Bett aufgewacht ist und sich vor dem näher kommenden Geräusch fürchtet. Mit seiner kleinen Hand klatscht er an die Wand, damit die Maus davonläuft. Aber die Maus läuft nicht nur nicht weg; sie ist auch noch unverhältnismäßig riesig. Sie ist nicht nur dicker als beide Jungen zusammen, sie ist größer als das Kopfbrett des Bettes – größer als das ganze Bett und das Kopfbrett dazu.
Auch sein Lieblingsbuch von Ted Cole holte Eddie aus dem Matchsack und las es noch einmal, bevor die Fähre anlegte. Die Tür im Boden
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