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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nichts nachstand, war auf den Fotos der Fußball- und der Hockey-Juniorenmannschaft zu sehen.
    Eingeschüchtert hatte Eddie nicht etwa die Tatsache, daß die beiden kicken und eislaufen konnten, sondern allein die Anzahl der über das ganze Jahrbuch verteilten Schnappschüsse, auf denen beide Jungen zu sehen waren – die vielen ungestellten Aufnahmen, aus denen sich ein Jahrbuch zusammensetzt, lauter Fotos von Schülern, die ganz offensichtlich ihren Spaß haben. Thomas und Timothy schienen sich immer zu amüsieren. Sie waren glücklich gewesen!
    Beim Ringen in einem Knäuel von Jungen im Raucherzimmer eines Wohnheims, beim Herumkaspern auf Krücken, beim Posieren mit Schneeschaufeln oder beim Kartenspielen – Thomas oft mit einer Zigarette, die aus seinem hübschen Mundwinkel hing. Und bei den Tanzfesten in der Academy hatten die Cole-Jungen die hübschesten Mädchen an ihrer Seite. Auf einem Foto tanzte Timothy nicht nur mit seiner Partnerin, er umarmte sie regelrecht; auf einem anderen küßte Thomas ein Mädchen (draußen im Freien, an einem kalten, verschneiten Tag, beide in Kamelhaarmänteln), das er an ihrem Schal zu sich herangezogen hatte. Diese Jungen waren ungeheuer beliebt gewesen! (Und dann waren sie gestorben.)
    Die Fähre fuhr an einer Werft vorbei; mehrere Schiffe standen im Trockendock, andere lagen im Wasser. Als sich die Fähre vom Land entfernte, passierten sie ein paar Leuchttürme. Weiter draußen im Sund sah man nur noch wenige Segelboote. Im Landesinneren war es schon am frühen Morgen, als Eddie Exeter verlassen hatte, heiß und diesig gewesen, aber auf dem Wasser blies ein kalter Nordostwind, und die Sonne versteckte sich immer wieder hinter den Wolken.
    Eddie, der sich auf dem Oberdeck noch immer mit seinem schweren Matchsack und dem kleinen, leichten Koffer abmühte – und dazu noch mit dem verdrückten Geschenk für das Kind –, beschloß umzupacken. Das Geschenkpapier würde noch mehr leiden, wenn Eddie das Geschenk in seinen Matchsack stopfte, aber wenigstens mußte er es dann nicht mehr unters Kinn klemmen. Außerdem brauchte er Socken; er war am Morgen barfuß in seine leichten Slipper geschlüpft, und jetzt hatte er kalte Füße. Er holte sich auch noch ein Sweatshirt heraus, das er über sein T-Shirt ziehen konnte. Erst jetzt, an seinem ersten Tag fern der Academy, wurde ihm bewußt, daß er ein Exeter-T-Shirt und ein Exeter-Sweatshirt trug. Da es ihm auf einmal peinlich war, seine verehrte Schule derart schamlos anzupreisen, drehte Eddie das Sweatshirt um. Und da begriff er auf einmal, weshalb sich einige ältere Schüler angewöhnt hatten, ihre Sweatshirts mit dem Schulemblem links zu tragen; dieses neue Bewußtsein für den letzten Schrei in Sachen Mode wertete Eddie als Indiz dafür, daß er bereit war, der sogenannten großen Welt entgegenzutreten – vorausgesetzt, es gab tatsächlich eine Welt, in der Exonianer gut daran taten, ihre Exeter-Erfahrungen hinter sich zu lassen (oder nach innen zu kehren).
    Abgesehen davon war Eddie heilfroh, daß er Jeans trug, obwohl seine Mutter ihm klarzumachen versuchte, daß eine Khakihose »angemessener« sei. Zwar hatte Ted Cole in seinem Brief an Minty geschrieben, Sakko und Krawatte könne der Junge getrost zu Hause lassen – für Eddies Ferienjob sei keine »Exeter-Kluft« erforderlich, wie Ted es formulierte –, doch Eddies Vater hatte darauf bestanden, daß sein Sohn ein paar Anzughemden und Krawatten und ein, wie er es nannte, »Allzweck«-Sportsakko einpackte.
    Erst als Eddie auf dem Oberdeck umpackte, nahm er bewußt das dicke Kuvert wahr, das ihm sein Vater ohne Erklärung ausgehändigt hatte, was an sich schon eigenartig war, weil Minty immer alles erklärte. Es war ein mit der Absenderadresse der Phillips Exeter Academy bedruckter Umschlag, auf den sein Vater in seiner ordentlichen Handschrift O’HARE geschrieben hatte. In diesem Umschlag befanden sich die Namen und Adressen sämtlicher in den Hamptons lebender Exonianer. Das entsprach Mintys Vorstellung davon, was es hieß, für alle Notfälle gerüstet zu sein: Wenn man Hilfe brauchte, konnte man sich jederzeit an einen anderen Exonianer wenden! Eddie sah auf den ersten Blick, daß er keinen von diesen Leuten kannte. Die Liste enthielt sechs Namen mit Adressen in Southampton, zumeist Absolventen aus den dreißiger und vierziger Jahren; ein anderer Ehemaliger, der 1919 seinen Abschluß gemacht hatte, war ohne Zweifel längst im Ruhestand und zu alt, um sich noch daran zu

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