Witwe für ein Jahr (German Edition)
Prostituierten nach Paris zu fahren!)
Harry hatte sich angewöhnt, Anmerkungen an den Rand seiner Reiseführer zu schreiben und wichtige Sätze über geeignete Hotels zu unterstreichen. Zu den Hotels, in denen er am liebsten abgestiegen wäre, zählte das Hoˆtel du Quai Voltaire, jenes Hotel, in dem Ted das Foto von Marion mit Thomas’ und Timothys Füßen gemacht hatte. Aber es wurde nicht so warm empfohlen wie das Hoˆtel de L’Abbaye oder das Duc de SaintSimon. Harry wollte irgendwo in Saint-Germain-des-Prés wohnen, fand aber, daß die Wahl des Hotels Rooie überlassen bleiben sollte.
Harry brachte Rooie seine Paris-Reiseführer samt Unterstreichungen und Randbemerkungen in die Bergstraat. Er mußte eine Weile auf der Straße herumhängen, bis Rooie mit einem Freier fertig war.
»Ach, Harry!« rief sie. »Du willst wirklich mit einer alten Hure nach Paris fahren? Paris im April!«
Keiner von beiden war jemals in Paris gewesen. Es hätte nie funktioniert. Harry konnte sich vorstellen, daß Rooie Gefallen an Notre-Dame und den Tuilerien fand und an den Antiquitätengeschäften, von denen er gelesen hatte; er konnte sie an seinem Arm fröhlich durch den Jardin du Luxembourg spazieren sehen. Aber im Louvre konnte er sie sich nicht vorstellen. Immerhin war sie, obwohl sie in Amsterdam lebte, noch kein einziges Mal im Rijksmuseum gewesen! Wie hätte Harry da mit ihr nach Paris fahren können?
»Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß ich wegkann«, meinte er ausweichend. »Im April ist in De Wallen einiges los.«
»Dann fahren wir eben im März«, meinte Rooie. »Oder im Mai! Was soll’s?«
»Ich glaube, es geht einfach nicht«, gab Harry schließlich zu.
Prostituierte sind daran gewöhnt, abgewiesen zu werden; sie können ziemlich gut damit umgehen.
Nachdem Harry den Anruf erhalten hatte, daß Rooie ermordet worden war, hatte er in ihrem Zimmer nach den Reiseführern Ausschau gehalten, die Rooie ihm noch nicht zurückgegeben hatte. Sie lagen in einem Stapel auf der schmalen Ablage in der Toilette.
Er registrierte auch, daß der Mörder Rooie gebissen hatte und daß die lieblose Art und Weise, wie die Leiche vom Bett gestoßen worden war, darauf schließen ließ, daß bei dem Mord keine rituelle Komponente mit im Spiel war. Sehr wahrscheinlich war Rooie erwürgt worden, auch wenn keine Druckmale an ihrer Kehle zu sehen waren. Diese Tatsache deutete darauf hin, daß sie mit dem Unterarm erwürgt worden war, dachte der hoofdagent.
Da fiel sein Blick auf den Wandschrank mit den nach außen zeigenden Schuhspitzen; ein Paar Schuhe war umgestoßen worden, und in der Mitte der gleichmäßigen Reihe war eine Lücke, in die noch ein Paar Schuhe gepaßt hätte.
Scheiße! Es hatte einen Zeugen gegeben! wurde Harry in diesem Augenblick klar. Er wußte, daß Rooie zu den wenigen Prostituierten gehörte, die sich ungeheure Mühe gaben, Anfängerinnen in dem Gewerbe den Einstieg zu erleichtern. Und er wußte auch, wie sie es machte: Sie gab den Mädchen die Möglichkeit, sie mit einem Freier zu beobachten, nur damit sie sahen, wie man es machte. Sie hatte schon viele Mädchen in ihrem Wandschrank versteckt. Von dieser Methode hatte Harry bei einem Treffen des Roten Fadens erfahren. Aber Rooie ging schon seit geraumer Zeit nicht mehr hin. Harry wußte nicht einmal, ob diese Treffen für Neulinge überhaupt noch stattfanden.
In der offenen Tür zu Rooies Fensterzimmer saß schluchzend und schniefend das Mädchen, das Rooie gefunden hatte. Sie hieß Anneke Smeets und war früher drogensüchtig gewesen – zumindest hatte sie Rooie davon überzeugt, daß sie clean war. Anneke Smeets war nicht zum Arbeiten angezogen; für gewöhnlich trug sie ein rückenfreies Lederoberteil, das Harry im Schrank hatte hängen sehen. Jetzt, in der Tür, sah Anneke reizlos und ungepflegt aus. Sie trug einen weiten, schwarzen Pullover mit ausgebeulten Ellbogen, und ihre Jeans waren an beiden Knien aufgerissen. Sie war nicht geschminkt, hatte nicht einmal Lippenstift aufgelegt, und ihre Haare starrten vor Schmutz. Das einzige, was bei aller Unscheinbarkeit auf eine gewisse Wildheit hindeutete, war ein eintätowierter Blitz (wenn auch ein kleiner) an der Innenseite ihres rechten Handgelenks.
»Sieht aus, als hätte jemand vom Wandschrank aus zugesehen«, begann Harry.
Noch immer schluchzend, nickte das Mädchen. »Sieht ganz so aus«, bestätigte sie.
»Hat sie einer jungen Nutte weitergeholfen?« wollte Harry von Anneke wissen.
»Nicht
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