Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Tag, an dem er starb, saß er vollständig angekleidet in Rooies tiefem Sessel und jammerte, er habe zu üppig zu Mittag gegessen, selbst dafür, daß Sonntag sei. Er bat Rooie, ihm ein Alka Seltzer zu bringen, das er, wie er gestand, noch dringender benötigte (jedenfalls im Augenblick) als ihre »unschätzbare körperliche Zuwendung«.
    Rooie war unendlich froh, daß sie ihm den Rücken zugewandt hatte, als er seinen letzten Atemzug tat. Nachdem sie das Alka Seltzer hergerichtet hatte, drehte sie sich zu ihm um, aber da war der alte Dr. Bosman tot.
    Rooies Hang zu Halbwahrheiten hatte sie damals verraten. Sie rief Harry Hoekstra her und erzählte ihm, ein alter Herr sitze tot in ihrem Fensterzimmer; aber wenigstens habe sie ihn davor bewahrt, auf der Straße zu sterben. Sie habe ihn die Bergstraat entlangtaumeln sehen, und da er sich offensichtlich nicht wohl fühlte, habe sie ihn in ihr Zimmer geholt und in einen bequemen Sessel gesetzt, wo er sie um ein Alka Seltzer gebeten habe.
    »›Sagen Sie meiner Frau, daß ich sie liebe!‹ waren seine letzten Worte«, teilte Rooie Harry mit. Sie hatte ihm nicht gesagt, daß der tote Urologe ihr ältester und treuester Freier gewesen war, denn seine Familie sollte auf keinen Fall erfahren, daß ihr geliebtes Oberhaupt bei seiner langjährigen Hure gestorben war. Aber Harry hatte zwei und zwei zusammengezählt.
    Zum einen wirkte Dr. Bosman im Sessel der roten Dolores so friedlich, und zum anderen war Rooie sichtlich aufgewühlt. Auf ihre Art hatte sie den alten Urologen geliebt.
    »Wie lange kommt er denn schon zu dir?« hatte Harry sie umgehend gefragt. Rooie brach in Tränen aus.
    »Er war immer so nett zu mir!« heulte sie. »Kein Mensch war jemals so nett zu mir. Nicht mal du, Harry.«
    Harry hatte Rooie geholfen, ihre Geschichte auszufeilen. Sie beruhte im Prinzip auf der Lüge, die sie ihm anfangs aufgetischt hatte, und er half ihr, die Einzelheiten richtig hinzubekommen. Wo genau auf der Bergstraat hatte Rooie den alten Arzt zuerst »taumeln« sehen, wie sie es ausdrückte? Wie genau hatte sie ihn dazu gebracht, in ihr Zimmer zu kommen? Mußte sie ihm in den Sessel helfen? Und als der sterbende Urologe sie gebeten hatte, seiner Frau zu sagen, daß er sie liebe, klang seine Stimme da gepreßt? Hatte er Mühe mit dem Atmen? Sah man ihm an, daß er Schmerzen hatte? Dr. Bosmans Frau wollte das bestimmt alles wissen.
    Die Witwe Bosman war der roten Dolores so dankbar gewesen, daß sie sie zum Trauergottesdienst eingeladen hatte. Alle Familienangehörigen sprachen Rooie ihre tiefe Dankbarkeit aus, und im Laufe der Zeit nahmen die Bosmans die Prostituierte buchstäblich in die Familie auf. Sie luden sie regelmäßig zum Weihnachts- und Osteressen ein und zu anderen Familienfesten wie Hochzeiten und Geburtstagen.
    Harry Hoekstra hatte oft darüber nachgedacht, daß Rooies Halbwahrheit über Dr. Bosman wahrscheinlich die positivste Lüge war, mit der er es je zu tun gehabt hatte. »Wie war die Reise?« fragte er Rooie jedesmal, wenn sie in Urlaub gewesen war. Aber sonst fragte er sie: »Wie geht es den Bosmans?«
    Und nachdem Dolores de Ruiter in ihrem Fensterzimmer ermordet worden war, verständigte Harry sofort die Bosmans; sonst gab es niemanden, dem er Bescheid sagen mußte. Er vertraute auch darauf, daß die Bosmans sie begraben würden; und wirklich organisierte und bezahlte Mrs. Bosman Rooies Begräbnis. Die Familie war recht zahlreich vertreten, außerdem nahmen mehrere Polizisten (unter ihnen Harry) und ein paar Frauen vom Roten Faden daran teil. Harrys Exfreundin, Natasja Frederiks, war auch anwesend, aber das bei weitem eindrucksvollste Aufgebot stellte Rooies andere Familie: die Prostituierten, die dem Begräbnis in Scharen beiwohnten. Rooie war bei ihren Kolleginnen sehr beliebt gewesen.
    Dolores de Ruiter hatte ein Leben voller Halbwahrheiten geführt. Eine besonders ungute – für Harry eine der schmerzlichsten Lügen, mit denen er je zu tun gehabt hatte – kam bei ihrem Begräbnis ans Tageslicht. Nacheinander nahmen die Prostituierten, die Rooie gekannt hatten, Harry beiseite, um ihm die gleiche Frage zu stellen.
    »Wo ist ihre Tochter?« Oder sie fragten mit Blick auf die vielen Enkelkinder des alten Dr. Bosman: »Welche davon ist es? Ist ihre Tochter denn nicht da?«
    »Rooies Tochter ist tot«, mußte Harry ihnen mitteilen. »Sie ist schon seit Jahren tot.« In Wirklichkeit, aber das wußte nur Harry, war Rooies Tochter schon tot zur Welt gekommen. Doch

Weitere Kostenlose Bücher