Witwe für ein Jahr (German Edition)
Tages saß Rooie, ohne Vorankündigung, wieder in ihrem Fenster in der Bergstraat; und da erfuhr Harry vom Ende ihrer Ehe und von ihrer totgeborenen Tochter. (Inzwischen sprach Rooie natürlich ziemlich gut Englisch.)
Ihren nächsten Weihnachtsurlaub verbrachte sie wieder in Klosters und wohnte wieder im Chesa Grischuna, aber es sollte ihr letzter Winterurlaub in einem Skigebiet sein. Obwohl weder Richard Smalley noch sein neurasthenischer Sohn da waren, mußte es sich herumgesprochen haben, aus welchem Milieu Rooie kam. In nicht vorhersehbaren Situationen merkte sie, daß sie wie eine Exprostituierte behandelt wurde und nicht wie eine Exgattin.
Sie versicherte Harry glaubhaft, sie habe in einer Liftgondel jemanden »Smalleys Hure« flüstern hören. Und im Chesa, wo sie jeden Abend allein speiste, hatte ihr ein kleiner, glatzköpfiger Mann in samtenem Dinnerjacket und mit einer breiten, knallorangeroten Krawatte Avancen gemacht. Ein Kellner brachte Rooie von dem Kahlkopf ein Glas Champagner und ein mit Druckbuchstaben beschriebenes Billet.
HOW MUCH? stand auf dem Kärtchen. Sie schickte den Champagner zurück.
Kurz nach diesem letzten Aufenthalt in Klosters hörte Rooie auf, an den Wochenenden in ihrem Fenster zu arbeiten. Später arbeitete sie auch nachts nicht mehr, und irgendwann verließ sie ihr Fenster am Nachmittag – rechtzeitig, um ihre Tochter von der Schule abzuholen. Das zumindest erzählte sie allen.
Die anderen Prostituierten in der Bergstraat wollten hin und wieder ein Foto von der angeblichen Tochter sehen. Daß sie sie in der Umgebung der Bergstraat nie zu Gesicht bekamen, verstanden sie natürlich; die meisten Prostituierten verheimlichten ihren Kindern, solange sie klein waren, was sie machten.
Die Frau, mit der sich Rooie das Zimmer teilte, war besonders neugierig, und Rooie hatte auch ein Foto, das sie gern herzeigte. Das kleine Mädchen, das man darauf sah, war ungefähr fünf oder sechs; es saß fröhlich auf Rooies Schoß, bei einem Abendessen im Kreis der Familie, wie es aussah. Natürlich handelte es sich um eine von Dr. Bosmans Enkelinnen; nur Harry Hoekstra wußte, daß das Foto beim Osteressen der Bosmans aufgenommen worden war.
Das also war die Tochter der Prostituierten, deren Abwesenheit sich nie so deutlich bemerkbar gemacht hatte wie bei Rooies Begräbnis. Bei diesem Zusammentreffen recht unterschiedlicher Menschen mußten mehrere Prostituierte Harry noch einmal nach dem Namen der Tochter fragen; es war kein gängiger Name. Ob Harry sich noch daran erinnern könne?
Natürlich wußte er ihn noch. Das Mädchen hatte Chesa geheißen.
Im Anschluß an Rooies Begräbnis, bei einer Art Leichenschmaus – die alte Mrs. Bosman, die alle Kosten übernahm, hielt viel von solchen Traditionen –, wurde der Name der toten Tochter von den Prostituierten so oft wiederholt, daß die Witwe Harry darauf ansprach. (Er versuchte ungeschickt, sich eines hartgekochten Eis mit einer Art Kaviar zu entledigen, das er nicht essen wollte.) »Wer ist Chesa?« erkundigte sich die alte Mrs. Bosman.
Und da erzählte Harry ihr die ganze Geschichte. Sie rührte Mrs. Bosman zu Tränen, aber die alte Dame war nicht dumm. »Natürlich habe ich gewußt, daß mein lieber Mann zu einer Prostituierten geht«, vertraute sie Harry an. »Aber so, wie ich es sehe, hat sie mir einen Freundschaftsdienst erwiesen. Und sie hat ihn davor bewahrt, auf der Straße zu sterben!«
Erst wenige Jahre bevor die rote Dolores ermordet wurde, hatte sie ihre jährlichen Urlaube von zwei auf einen in der warmen Jahreszeit im April oder Mai reduziert. Weihnachten verbrachte sie inzwischen immer bei den Bosmans; sie hatten so viele Enkelkinder, daß Rooie eine Menge Geschenke kaufen mußte. »Das ist immer noch billiger, als Ski fahren zu gehen«, erklärte sie Harry. Und in einem tristen Winter – ein Jahr bevor sie umgebracht wurde – hatte Rooie ihm vorgeschlagen, mit ihm zusammen, auf getrennte Kasse, in Urlaub zu fahren.
»Du hast doch die vielen Reisebücher«, hatte sie ihn aufgezogen. »Du suchst ein Ziel aus, und ich fahre mit.« Was immer sie an den geschiedenen Vätern so verlockend gefunden hatte, die mit ihren schweigsamen Kindern in Urlaub fuhren, hatte seinen Reiz verloren.
Harry hatte sich seit langem vorgestellt, wie es wohl wäre, mit Rooie zu verreisen, aber ihr Vorschlag hatte ihn ebenso überrascht wie in Verlegenheit gebracht. Das erste Reiseziel, an das er dachte, war Paris. (Man stelle sich vor, mit einer
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