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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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daß ich wüßte!« sagte das schluchzende Mädchen.
    Und so vermutete Harry Hoekstra, noch bevor Ruth Coles Augenzeugenbericht auf der Wache in der Warmoesstraat eintraf, daß es eine Zeugin gegeben hatte.
    »O Gott!« rief Anneke plötzlich. »Niemand hat ihre Tochter von der Schule abgeholt! Wer wird es ihrer Tochter sagen?«
    »Es hat sie schon jemand abgeholt«, log Harry. »Es hat’s ihr schon jemand gesagt.«
    Mit der Wahrheit rückte er ein paar Tage später heraus, als Nico Jansen, sein bester Freund unter den Kriminalbeamten, mit ihm reden wollte – unter vier Augen. Harry wußte auch, weshalb.
    Auf Jansens Schreibtisch lagen die Paris-Reiseführer. Harry Hoekstra schrieb in alle Bücher seinen Namen. Nico Jansen schlug einen Reiseführer bei der Beschreibung des Hotels Duc de Saint-Simon auf. Harry hatte an den Rand geschrieben: Mitten auf dem Faubourg Saint-Germain, phantastische Lage .
    »Ist das nicht deine Handschrift, Harry?« fragte Jansen.
    »Mein Name steht doch vorne drin, Nico. Ist dir das entgangen?« fragte Harry seinen Freund.
    »Hattest du vor, mit ihr zu verreisen?« fragte Jansen. Harry war seit über drei Jahrzehnten Polizist; endlich erlebte er, wie es war, unter Verdacht zu stehen.
    Harry erklärte ihm, daß Rooie häufig verreist sei. Er hingegen habe sich darauf beschränkt, Reisebücher zu lesen. Es habe sich seit geraumer Zeit eingebürgert, daß er ihr seine Reiseführer lieh, sagte Harry. Sie habe ihn immer gefragt, in welchen Hotels sie sich einquartieren und was sie sich ansehen sollte.
    »Aber eine Beziehung mit Rooie hattest du nicht, oder, Harry?« fragte Nico. »Du bist niemals tatsächlich mit ihr verreist, oder?«
    »Nein, nie«, antwortete Harry.
    Grundsätzlich war es sinnvoll, Polizisten die Wahrheit zu sagen. Harry hatte wirklich keine Beziehung mit Rooie gehabt; und er war auch nie mit ihr verreist. Das entsprach der Wahrheit. Aber die Polizei brauchte nicht alles zu wissen. Nico Jansen mußte nicht unbedingt wissen, daß Harry in Versuchung geraten war. Und wie!
    Sergeant Hoekstra findet seine Zeugin

    Derzeit trug Sergeant Hoekstra seine Polizeiuniform nur noch, wenn es im Rotlichtbezirk von Touristen wimmelte. (Zu Rooies Begräbnis hatte er sie auch getragen.) Wenn jemand benötigt wurde, um Besucher herumzuführen, wurde im 2. Bezirk immer Harry dazu auserkoren – nicht nur, weil er besser Englisch (und Deutsch) sprach als alle anderen Polizisten auf der Wache in der Warmoesstraat, sondern auch, weil er der anerkannte Fachmann für den Rotlichtbezirk war und es liebte, Leute dort herumzuführen. Einmal hatte er einer Gruppe Nonnen De Wallen gezeigt. Nicht selten führte er Schulkinder in den »kleinen Mauern« herum. Die Fensterprostituierten blickten einfach gelassen in die andere Richtung, wenn sie die Kinder kommen sahen, nur einmal hatte eine Frau in einem Fenster ganz plötzlich ihren Vorhang zugezogen; später erklärte sie Harry, sie habe ihr eigenes Kind in der Gruppe entdeckt.
    Sergeant Hoekstra wurde auch vorgeschickt, wenn es darum ging, den Medien Auskunft zu geben. Da falsche Geständnisse an der Tagesordnung waren, hatte Harry rasch gelernt, der Presse nie die genauen Einzelheiten eines Verbrechens mitzuteilen; im Gegenteil, manchmal fütterte er die Journalisten mit falschen Details, so daß sich Spinner in Windeseile verrieten. Bei dem Mord an der roten Dolores konnte er dadurch, daß er den Journalisten mitteilte, Rooie sei nach einem »heftigen Kampf« erwürgt worden, zwei falsche Geständnisse aussondern.
    Sie stammten von Männern, die behaupteten, Rooie mit den Händen erwürgt zu haben. Der eine hatte seine Frau überredet, ihm Gesicht und Handrücken zu zerkratzen; der andere hatte seine Freundin dazu gebracht, ihn wiederholt gegen beide Schienbeine zu treten. In beiden Fällen sahen die Männer so aus, als wären sie in einen »heftigen Kampf« verwickelt gewesen.
    Was das tatsächliche Vorgehen von Rooies Mörder betraf, so hatten die Kriminalbeamten keine Zeit an ihren Computern verschwendet, sondern alle notwendigen Informationen an Interpol in Wiesbaden weitergeleitet, wo festgestellt wurde, daß es vor etwa fünf Jahren einen ähnlichen Mord an einer Prostituierten in Zürich gegeben hatte.
    Rooie hatte nur noch einen Schuh wegschleudern können. Die Prostituierte in der Langstraße in Zürich hatte etwas mehr Widerstand geleistet; sie hatte sich einen Fingernagel abgebrochen, wahrscheinlich bei einem kurzen Handgemenge. Ein paar

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