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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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wahrscheinlich ist sie längst tot.«
    Eddie war noch immer ganz überwältigt von dem YeatsGedicht, was ihn jedoch nicht hinderte, die Augen offenzuhalten. Ruth spähte ebenfalls nach Marion aus; dann meinte sie ihre Mutter zu sehen.
    Die Frau war nicht alt genug, um Marion zu sein, aber Ruth machte sich das nicht auf Anhieb klar. Ihr fiel vor allem die Eleganz dieser Frau auf und das aufrichtige Mitgefühl, das sie ihr entgegenzubringen schien. Sie sah Ruth keineswegs einschüchternd oder aufdringlich an, sondern voller Mitleid und neugieriger Anteilnahme. Sie war eine attraktive Frau, höchstens so alt wie Allan – noch keine Sechzig. Wie es schien, galt ihr Interesse nicht eigentlich Ruth, sondern Hannah. Und dann merkte Ruth, daß die Frau auch nicht Hannah ansah, sondern Graham.
    Ruth berührte die Frau am Arm und fragte sie: »Entschuldigen Sie … kenne ich Sie?«
    Beschämt wandte die Frau den Blick ab. Aber sie faßte sich rasch, nahm all ihren Mut zusammen und drückte Ruths Unterarm.
    »Es tut mir leid. Ich weiß, daß ich Ihren Sohn angestarrt habe. Aber er sieht Allan so gar nicht ähnlich«, sagte die Frau verlegen.
    »Wer sind Sie überhaupt, Lady?« fragte Hannah.
    »Ach, tut mir leid!« sagte die Frau zu Ruth. »Ich bin die andere Mrs. Albright. Ich meine, die erste Mrs. Albright.«
    Hannah sah aus, als wollte sie gleich fragen: »Waren Sie eingeladen?« Und Ruth wollte vermeiden, daß Hannah Allans Exfrau brüskierte.
    Wieder einmal rettete Eddie die Situation.
    »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte er und drückte den Arm der Exfrau. »Allan hat soviel Gutes von Ihnen erzählt.«
    Die erste Mrs. Albright war verblüfft; sie ließ sich ähnlich leicht überwältigen wie Eddie von dem Yeats-Gedicht. Ruth hatte Allan nie »Gutes« über seine Exfrau sagen hören; manchmal hatte er voller Mitleid von ihr gesprochen, vor allem, weil er überzeugt war, daß sie ihren Entschluß bereuen würde, keine Kinder zu bekommen. Und jetzt war sie hier und hatte nur Augen für Graham! Ruth war überzeugt, daß die ehemalige Mrs. Albright nicht zu der Trauerfeier gekommen war, um Allan die letzte Ehre zu erweisen, sondern um einen Blick auf sein Kind zu werfen!
    Aber sie beschränkte sich darauf, zu sagen: »Danke, daß Sie gekommen sind.« Sie hätte weitergesprochen, gedankenlos irgendwelches Zeug geredet, das sie nicht ernst meinte, aber Hannah hinderte sie daran.
    »Du siehst besser aus mit Schleier«, flüsterte Hannah ihr zu. »Graham, das ist eine alte Freundin von deinem Daddy«, erklärte sie dem Jungen. »Sag ›Guten Tag‹.«
    »Guten Tag«, sagte Graham zu Allans Exfrau. »Wo ist Daddy? Wo ist er jetzt?«
    Ruth zog den Schleier wieder herunter; ihr Gesicht fühlte sich noch immer so taub an, daß sie gar nicht merkte, daß sie wieder weinte.
    Für die Kinder wünscht man sich einen Himmel, dachte Ruth. Nur um sagen zu können: »Daddy ist im Himmel, Graham.« Und das sagte sie jetzt auch.
    »Und im Himmel ist es schön, oder?« meinte der Junge. Seit Allan gestorben war, hatten sie oft über den Himmel gesprochen und wie es dort war. Wahrscheinlich bekam er dadurch um so mehr Bedeutung für Graham. Da weder Ruth noch Allan gläubig waren, hatte der Himmel in den ersten drei Lebensjahren des Jungen keine Rolle gespielt.
    »Ich werde dir sagen, wie es im Himmel ist«, sagte die ehemalige Mrs. Albright zu Graham. »Es ist wie in deinen schönsten Träumen.«
    Aber Graham war in einem Alter, in dem er häufig Alpträume hatte. Seine Träume schickte nicht unbedingt der Himmel. Und wenn er dem Yeats-Gedicht hätte glauben wollen, hätte er sich seinen Daddy vorstellen müssen, wie er »auf den Bergen hinschritt irgendwo und das Gesicht verbarg in Sternenflut«. (Ist das der Himmel oder ein Alptraum? fragte sich Ruth.)
    »Sie ist nicht da, oder?« sagte sie plötzlich durch ihren Schleier hindurch zu Eddie.
    »Jedenfalls sehe ich sie nicht«, meinte Eddie.
    »Ich weiß, daß sie nicht hier ist«, sagte Ruth.
    »Wer ist nicht hier?« wollte Hannah von Eddie wissen.
    »Ihre Mutter«, antwortete Eddie.
    »Es wird alles gut, Baby«, flüsterte Hannah ihrer besten Freundin zu. »Scheiß auf deine Mutter.«
    Hannah fand, daß Scheiß auf deine Mutter ein passenderer Titel für Eddie O’Hares fünften Roman, Eine schwierige Frau, gewesen wäre, der im selben Herbst 1994 erschien, in dem Allan starb. Aber Hannah hatte Ruths Mutter längst abgeschrieben, und da sie selbst noch keine ältere Frau war,

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