Witwe für ein Jahr (German Edition)
hartnäckig beim Nachnamen nannte, was dieser nicht ausstehen konnte, entwickelte er eine aufrichtige Zuneigung zu ihm, wenn auch nicht zu seinen Büchern; und obwohl er vom Typ her das genaue Gegenteil von Eddie war, gewann dieser ihn sehr viel lieber, als er es für möglich gehalten hätte. Sie waren gute Freunde gewesen, als Allan starb, und Eddie hatte seine Rolle bei der Trauerfeier durchaus ernst genommen.
Eddies Beziehung zu Ruth stand auf einem anderen Blatt – er konnte ihre Gefühle für ihre Mutter nur bis zu einem gewissen Grad verstehen. Zwar hatte er die tiefgreifenden Veränderungen bemerkt, die die Mutterschaft bei Ruth bewirkten, ohne aber zu erkennen, daß ihre Einstellung zu ihrer eigenen Mutter dadurch noch unversöhnlicher geworden war.
Mit einem Wort: Ruth war eine gute Mutter. Als Allan starb, war Graham nur ein Jahr jünger als Ruth zu der Zeit, als Marion sie verlassen hatte. Ruth konnte es einfach nicht fassen, daß Marion ihre Tochter so wenig geliebt hatte. Sie selbst wäre eher gestorben, als Graham zu verlassen; für sie wäre es absolut undenkbar gewesen, ihren Sohn im Stich zu lassen.
Und während Eddie Marions Gemütsverfassung – soweit er sie aus McDermid im Ruhestand erschließen konnte – zwanghaft verfolgte, las Ruth den vierten Roman ihrer Mutter voller Unwillen und Mißfallen. (Man kann das Schwelgen in Kummer und Leid auch übertreiben, dachte sie.)
Als Lektor hatte Allan, was Marion betraf, seine Hausaufgaben gemacht und über die kanadische Kriminalautorin, die sich Alice Somerset nannte, so viel herausgefunden wie irgend möglich. Nach Auskunft ihres kanadischen Verlegers war sie in Kanada nicht erfolgreich genug, um vom Verkauf ihrer Bücher leben zu können; die französischen und deutschen Übersetzungen ihrer Romane hingegen gingen sehr viel besser, und sie konnte bequem davon leben. Ruths Mutter besaß eine bescheidene Wohnung in Toronto, und die schlimmsten Monate des kanadischen Winters verbrachte sie in Europa. Dort waren ihr ihre deutschen und französischen Verleger gern behilflich, geeignete Wohnungen zu finden, die sie mieten konnte.
»Eine sympathische Frau, aber etwas reserviert«, hatte Marions deutscher Verleger zu Allan gesagt.
»Charmant, aber sehr unnahbar«, meinte der französische Verleger.
»Ich weiß nicht, weshalb sie sich die Mühe macht, ein Pseudonym zu verwenden – ich habe den Eindruck, sie kapselt sich ohnehin völlig ab«, lautete die Auskunft von Marions kanadischem Verleger; von ihm bekam Allan auch Marions Adresse in Toronto.
»Zum Kuckuck noch mal«, sagte Allan wiederholt zu Ruth; erst ein paar Tage vor seinem Tod fand ein solches Gespräch statt. »Hier ist die Adresse deiner Mutter. Du bist Schriftstellerin. Schreib ihr doch einfach einen Brief! Du könntest sie sogar besuchen, wenn du willst. Ich würde dich gern begleiten, aber du kannst auch allein hinfahren. Oder du könntest Graham mitnehmen – für Graham interessiert sie sich doch bestimmt!«
»Aber ich interessiere mich nicht für sie !« hatte Ruth entgegnet.
Ruth und Allan waren nach New York zu Eddies Buchpremiere gefahren, die an einem Abend im Oktober kurz nach Grahams drittem Geburtstag stattfand. Es war einer dieser sommerlich warmen, sonnigen Tage, und als es Abend wurde, brachte die Nachtluft eine angenehme Kühle – Herbst von seiner besten Seite. »Ein unübertrefflicher Tag!« hatte Allan gesagt, und Ruth hatte es nicht vergessen.
Sie hatten im Stanhope eine Suite mit zwei Schlafzimmern genommen; sie liebten sich in ihrem Schlafzimmer, während Conchita Gomez mit Graham ins Hotelrestaurant ging, wo der Junge wie ein kleiner Prinz behandelt wurde. Sie waren zusammen von Sagaponack in die Stadt gefahren, obwohl Conchita protestiert und gemeint hatte, sie und Eduardo seien zu alt, um auch nur eine Nacht getrennt zu verbringen; einer von ihnen könnte sterben, und für einen glücklich verheirateten Menschen wäre es schrecklich, allein zu sterben.
Das spektakuläre Wetter und vor allem der Sex hatten sich auf Allan so positiv ausgewirkt, daß er die fünfzehn Blocks zu Eddies Buchpremiere unbedingt zu Fuß gehen wollte. Rückblickend überlegte Ruth, daß Allans Gesicht bei ihrer Ankunft leicht gerötet gewesen war; aber damals wertete sie es als Zeichen seiner guten Gesundheit oder als Folge der kühlen Herbstluft.
Eddie machte sich wie üblich schlecht und entschuldigte sich ausgiebig: Er hielt eine alberne Rede, in der er seinen alten Freunden
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