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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Vermutlich führte sie noch ein anderes Leben, das ihr zu schaffen machte, vielleicht in Jamaika. Aber für Harry spielte es keine Rolle. Er mußte nicht unbedingt mit ihr sprechen.
    Zuletzt fuhr er mit dem Rad in die Bergstraat hinüber. Er mußte sich gedulden, bis Anneke Smeets mit einem Freier fertig war. Rooie hatte Anneke ihr Fensterzimmer testamentarisch vermacht. Zwar hatte dieses Vermächtnis die übergewichtige junge Frau vermutlich vom Heroin ferngehalten, aber ihrer Figur hatte der Luxus, in den Besitz von Rooies Zimmer zu gelangen, eindeutig geschadet: Sie war zu fett geworden, um noch in das rückenfreie Lederoberteil zu passen.
    »Ich würde gern reinkommen«, sagte Harry zu Anneke, obwohl er es im allgemeinen vorzog, sich draußen auf der Straße mit ihr zu unterhalten. Er hatte ihren Geruch noch nie gemocht. Außerdem war es spätnachts; und kurz bevor sie Schluß machte und nach Hause ging, roch Anneke grauenhaft.
    »Kommst du geschäftlich zu mir, Harry?« fragte die übergewichtige junge Frau. »Geht es um dein Geschäft oder um meines?«
    Sergeant Hoekstra zeigte ihr das Foto.
    »Das ist sie. Wer ist das?« fragte Anneke.
    »Bist du sicher?«
    »Klar bin ich sicher. Das ist sie. Aber was willst du von ihr? Ihr habt doch den Mörder.«
    »Gute Nacht, Anneke«, sagte Harry. Als er auf die Bergstraat hinaustrat, stellte er fest, daß sein Fahrrad geklaut worden war. Diese kleine Enttäuschung hatte für ihn etwa denselben Stellenwert wie die Tatsache, daß die jamaikanische Prostituierte wieder einmal verschwunden war. Im Grunde spielte es keine Rolle. Harry hatte morgen den ganzen Tag frei: Zeit genug, um den neuen Roman von Ruth Cole zu Ende zu lesen und sich ein neues Fahrrad zu kaufen.
    In Amsterdam passierten pro Jahr nicht mehr als zwanzig oder dreißig Morde, von denen die meisten nicht von Einheimischen verübt wurden, aber wann immer die Polizei eine Gracht mit Netzen nach einer verschwundenen Leiche absuchte, fischte sie Hunderte von Fahrrädern heraus. Harry war sein gestohlenes Fahrrad völlig schnuppe.
    In der Nähe des Hotels Brian, am Singel, saßen Mädchen in Fensterzimmern, in denen noch nie welche gesessen hatten. Noch mehr »Illegale«, aber Harry war nicht im Dienst. Er ließ die Mädchen in Frieden und ging ins Brian, um den Mann an der Rezeption zu bitten, ihm ein Taxi zu rufen.
    Binnen eines Jahres würde die Polizei scharf gegen die »Illegalen« vorgehen; bald würde es überall im Rotlichtbezirk leere Fensterzimmer geben. Vielleicht arbeiteten dann wieder Holländerinnen in den Fenstern. Aber bis dahin war Harry in Pension – ihn brauchte es eigentlich nicht mehr zu kümmern.
    Als er wieder zu Hause war, machte Harry im Schlafzimmer ein Feuer im Kamin. Er konnte es kaum erwarten, den Roman von Ruth Cole zu Ende zu lesen. Ihr Foto klebte er mit Tesafilm an die Wand neben seinem Bett. Die hellen Flammen züngelten, während er bis tief in die Nacht weiterlas; nur hin und wieder stand er auf, um Holz nachzulegen.
    Im flackernden Schein des Feuers wirkte Ruths bekümmertes Gesicht lebendiger als auf dem Buchrücken. Harry sah sie vor sich, ihren zielstrebigen, sportlichen Gang, ihre Wachheit im Rotlichtbezirk, wo er ihr erst zufällig, dann mit wachsendem Interesse gefolgt war. Sie hatte einen schönen Busen, daran erinnerte sich Harry noch.
    Endlich, fünf Jahre nach dem Mord an seiner Freundin Rooie, hatte Sergeant Hoekstra seine Zeugin gefunden.
    Eddie O’Hare verliebt sich noch einmal

    Während Alice Somersets vierter und anscheinend letzter Margaret-McDermid-Krimi, McDermid im Ruhestand , für Harry Hoekstra zwar enttäuschend endete, fand Eddie O’Hare ihn geradezu niederschmetternd. Das lag nicht nur daran, daß Marion über die Fotos ihrer verlorenen Söhne geschrieben hatte: »Eines Tages, so hoffte sie, würde sie den Mut aufbringen, sie zu zerreißen.« Viel mehr deprimierte ihn der anhaltende Fatalismus der pensionierten Kriminalbeamtin. Sergeant McDermid hatte sich damit abgefunden, daß die beiden Jungen für immer verschwunden waren. Selbst Marion hatte ihre Bemühungen aufgegeben, ihren toten Söhnen fiktives Leben einzuhauchen. Alice Somerset hörte sich an, als hätte sie mit dem Schreiben abgeschlossen. Eddie O’Hare faßte McDermid im Ruhestand als Ankündigung auf, daß sich die Schriftstellerin in Marion ebenfalls zur Ruhe gesetzt hatte.
    Ruth hatte Eddie gegenüber nur gemeint: »Viele Leute setzen sich früher zur Ruhe als mit

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