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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sei er nur sechs Jahre jünger als Allan. Das mit dem Alter sei deshalb wichtig, fuhr er unbeholfen fort, weil Allan gewollt habe, daß er ein bestimmtes Gedicht vorlese: Yeats’ ›Wenn du alt bist‹. Das Peinliche daran war, daß Allan offenbar davon ausgegangen war, daß Ruth eine alte Frau sein würde, wenn er starb. In Anbetracht der achtzehn Jahre Altersunterschied hatte er ganz richtig angenommen, daß er vor ihr sterben würde. Aber er hatte, und das war typisch für ihn, nicht im Traum daran gedacht, daß er bei seinem Tod eine junge Witwe zurücklassen würde.
    »Herrgott noch mal, das ist ja schauderhaft«, flüsterte Hannah Ruth zu. »Warum kann Eddie nicht einfach das verdammte Gedicht lesen?«
    Ruth kannte das Gedicht, und es wäre ihr sehr viel lieber gewesen, es nicht hören zu müssen. Denn dieses Gedicht brachte sie jedesmal zum Weinen, auch schon ohne den Umstand, daß Allan gestorben war und sie als Witwe zurückließ. Sie bezweifelte nicht, daß es sie auch diesmal zum Weinen bringen würde.
    »Alles wird gut, Baby«, flüsterte Hannah wieder einmal, als Eddie endlich das Yeats-Gedicht vorlas.
Bist du einst alt und grau und voller Schlaf
Und nickst am Feuer ein, dann nimm dies Buch,
Lies langsam, träume dich zurück und such,
Wie mich dein Aug mit seinem Schatten traf.
Wie viele liebten dich im heitren Licht
Und, weil du schön warst, sahn dich mit Begier,
Doch einer liebt’ das Pilgerherz in dir,
Die Trauer in dem wechselnden Gesicht.
Und wenn du dich hinunterneigst zur Glut,
Dann flüstre traurig: wie die Liebe floh
Und auf den Bergen hinschritt irgendwo
Und ihr Gesicht verbarg in Sternenflut.
    Verständlicherweise nahmen alle Anwesenden an, daß Ruth so bitterlich weinte, weil sie ihren Mann so sehr geliebt hatte. Sie hatte Allan wirklich geliebt oder zumindest gelernt, ihn zu lieben. Aber noch mehr hatte Ruth das Leben mit ihm geliebt. Und wenn es sie auch schmerzte, daß Graham seinen Vater verloren hatte, war sie doch froh, daß er noch klein genug war, um keine bleibenden Narben davonzutragen. Mit der Zeit würde er sich überhaupt nicht mehr an Allan erinnern.
    Nein, Ruth war furchtbar wütend auf Allan, weil er gestorben war, und als Eddie das Yeats-Gedicht vorlas, wurde sie noch wütender, weil Allan angenommen hatte, daß sie eine alte Frau sein würde, wenn er starb! Natürlich hatte sie selbst immer gehofft, alt zu sein, wenn es soweit war. Und jetzt stand sie, gerade vierzig geworden, mit einem dreijährigen Sohn da.
    Es gab aber noch einen niederen, egoistischen Grund für Ruths Tränen. Wenn sie Yeats las, nahm ihr das jedesmal allen Mut, auch nur zu versuchen, Gedichte zu schreiben; ihre Tränen waren die Tränen eines Schriftstellers, der etwas hört, das besser ist als alles, was er selbst jemals würde schreiben können.
    »Warum weint Mummy?« fragte Graham Hannah – bestimmt zum hundertstenmal, denn Ruth war seit Allans Tod phasenweise untröstlich gewesen.
    »Deine Mummy weint, weil sie deinen Daddy vermißt«, flüsterte Hannah dem Kind zu.
    »Aber wo ist Daddy jetzt?« fragte Graham seine Patentante; von seiner Mutter hatte er noch keine befriedigende Antwort erhalten.
    Nach der Trauerfeier drängten sich Scharen von Menschen um Ruth; sie hätte nicht sagen können, wie viele Leute ihre Arme drückten. Die Hände hatte sie fest vor den Bauch verschränkt; kaum jemand versuchte, ihre Hände zu berühren, nur die Handgelenke, Unter- und Oberarme.
    Hannah hatte Graham auf dem Arm, und Eddie stand verlegen neben ihnen. Er sah furchtbar zerknirscht aus, als bedauerte er es, das Gedicht vorgelesen zu haben. Vielleicht machte er sich insgeheim auch Vorwürfe, weil er meinte, seine Einführung hätte länger und expliziter sein sollen.
    »Tu den Vorhang weg, Mummy«, sagte Graham.
    »Das ist ein Schleier, Baby, kein Vorhang«, erklärte Hannah dem Jungen. »Und Mummy will ihn anbehalten.«
    »Nein, ich nehme ihn jetzt ab«, sagte Ruth; endlich hatte sie aufgehört zu weinen. Ihr Gesicht fühlte sich taub an; sie konnte nicht mehr weinen oder auf andere Art zeigen, wie durcheinander sie war. Dann fiel ihr diese schreckliche alte Frau ein, die sich selbst als Witwe für den Rest ihres Lebens bezeichnet hatte. Wo war sie jetzt? Die Trauerfeier für Allan wäre die ideale Gelegenheit gewesen, um wieder aufzutauchen!
    »Erinnert ihr euch an diese schreckliche alte Witwe?« fragte sie Hannah und Eddie.
    »Ich halte schon nach ihr Ausschau, Baby«, antwortete Hannah. »Aber

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