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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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war er noch einigermaßen sicher auf den Beinen.
    Ruth zeigte auf Eddie. »Die Füße!« sagte sie verärgert.
    »Sei nicht ungezogen, Ruthie!« wies Ted sie zurecht.
    »Ist Zeigen ungezogen?« fragte das Kind.
    »Das weißt du genau«, antwortete ihr Vater. »Tut mir leid, daß wir dich gestört haben, Eddie. Wir sind es gewohnt, Ruth die Fotos zu zeigen, wann immer sie sie sehen möchte. Aber da wir nicht in deine Privatsphäre eindringen wollten, hat sie sie in letzter Zeit nicht oft gesehen.«
    »Du kannst reinkommen und dir die Bilder ansehen, wann immer du möchtest«, sagte Eddie zu Ruth, die ihn noch immer finster anblickte.
    Als sie im Flur vor Eddies Schlafzimmer standen, sagte Ted: »Sag ›Gute Nacht, Eddie‹, okay, Ruthie?«
    »Wo sind die Füße?« wiederholte Ruth. Dabei sah sie Eddie durchdringend an. »Was hast du gemacht?«
    Auf dem Weg in Ruths Zimmer sagte Ted: »Ich muß mich doch sehr über dich wundern, Ruthie. Es sieht dir gar nicht ähnlich, ungezogen zu sein.«
    »Ich bin nicht ungezogen«, entgegnete Ruth mürrisch.
    »Na ja.« Das war alles, was Eddie von Ted noch hörte. Selbstverständlich ging er danach sofort ins Bad und entfernte die Papierstreifen von den Füßen der toten Jungen; mit einem feuchten Waschlappen rieb er die Rückstände des Tesafilms vom Glas.
    Im ersten Monat dieses Sommers onanierte Eddie wie eine Maschine, doch nie wieder nahm er Marions Foto von der Wand im Bad – und er wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, Thomas’ und Timothys Füße noch einmal abzudecken. Statt dessen onanierte er fast jeden Morgen im Kutscherhaus, wo er sich einbildete, nicht unterbrochen – oder erwischt – zu werden.
    Wenn Marion hier geschlafen hatte, stellte Eddie am nächsten Morgen jedesmal voller Freude fest, daß ihr Duft noch in den Kissen des ungemachten Bettes hing. An den anderen Tagen genügte es ihm, eines ihrer Kleidungsstücke anzufassen oder daran zu riechen. Marion hatte im Schrank einen Unterrock oder eine Art Nachthemd deponiert, in dem sie schlief. Außerdem gab es eine Schublade mit Büstenhaltern und Höschen. Eddie hoffte die ganze Zeit, sie würde ihre hellrosa Kaschmirjacke im Schrank lassen, die sie bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte. In seinen Träumen sah er sie oft in dieser Jacke. Doch in dem schäbigen Apartment über der Doppelgarage gab es keine Klimaanlage, und kein nennenswerter Durchzug linderte die stickige Hitze, die hier herrschte. Während es im Haus in Sagaponack für gewöhnlich kühl und luftig war, selbst bei der größten Hitze, war es in der gemieteten Wohnung in Bridgehampton unerträglich schwül. Und so durfte Eddie kaum darauf hoffen, daß Marion dort jemals Bedarf für ihre hellrosa Kaschmirjacke haben würde.
    Obwohl Eddie regelmäßig nach Montauk fahren mußte, um die übelriechende Sepiatinte abzuholen, entpuppte sich seine Arbeit als Schriftstellerassistent als leichter Achtstundenjob, für den Ted Cole ihm fünfzig Dollar die Woche zahlte. Eddie stellte ihm das Benzin für seinen Wagen in Rechnung, den zu fahren nicht annähernd soviel Spaß machte wie Marions Mercedes. Teds 57er Chevy (das Modell mit den denkwürdigen Flossen) war schwarz und weiß, was möglicherweise das enge Interessensspektrum des Zeichenkünstlers widerspiegelte.
    Am frühen Abend, gegen fünf oder sechs, fuhr Eddie oft an den Strand, um zu schwimmen – oder auch zu laufen, was er nur selten und dann halbherzig tat. Manchmal fischten hier sogenannte surf-casters , die ihre Leinen vom Strand aus warfen; sie rasten mit ihren Fahrzeugen am Ufer entlang und jagten den Fischschwärmen nach. Von den größeren Fischen an Land getrieben, lagen zappelnde Ellritzen auf dem nassen, festgepreßten Sand – noch ein Grund, weshalb Eddie wenig Lust hatte, dort zu laufen.
    Jeden Abend fuhr Eddie, mit Teds Erlaubnis, nach East Hampton oder Southampton, um ins Kino zu gehen oder auch nur einen Hamburger zu essen. Er bestritt die Kinobesuche (und sämtliche Mahlzeiten) von den fünfzig Dollar, die er von Ted bekam, und konnte trotzdem noch mehr als zwanzig Dollar pro Woche auf die Seite legen. Eines Abends, in einem Kino in Southampton, entdeckte er Marion.
    Sie saß allein unter den Zuschauern; wohl weil die Klimaanlage zu stark kühlte, trug sie ihre hellrosa Kaschmirjacke. Da sie an diesem Abend nicht im Kutscherhaus übernachten würde, war es unwahrscheinlich, daß ihre Jacke im Schrank des schäbigen Apartments über der Doppelgarage landen würde.

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