Witwe für ein Jahr (German Edition)
Marions nackte Schultern – nur mit den schmalen Trägern ihres Nachthemds oder Seidenhemdchens – und einen nackten Arm. Das Stückchen Achselhöhle, das zu erkennen ist, läßt darauf schließen, daß sie sich unter den Armen sorgfältig rasierte. Auf dem Foto mußte sie zwölf Jahre jünger gewesen sein, noch keine Dreißig, obwohl sie in Eddies Augen fast genauso aussah, nur nicht so glücklich. Vielleicht lag es an der Morgensonne, die schräg auf das Bett fiel, daß ihre Haare blonder wirkten.
Wie bei allen anderen Fotografien von Thomas und Timothy handelte es sich um eine aufwendig gerahmte und mit einem Passepartout versehene Vergrößerung im Format Zwanzig mal Fünfundzwanzig. Wenn Eddie das Foto von der Wand nahm, konnte er es so auf den Stuhl neben dem Bett stellen, daß Marion ihn ansah, während er dalag und onanierte. Um die Illusion zu verstärken, daß ihr Lächeln ihm galt, brauchte Eddie in Gedanken nur die nackten Füße der Kinder auszublenden. Besser freilich war es, sie gleich aus dem Blickfeld zu entfernen; zwei Zettel von einem Notizblock, die er mit Tesafilm auf die Glasscheibe klebte, und die Sache war geritzt.
Diese Beschäftigung war für Eddie längst zu einem allabendlichen Ritual geworden, als er eines Abends unterbrochen wurde. Kaum hatte er angefangen, sich einen runterzuholen, klopfte es an die Schlafzimmertür, die kein Schloß hatte, und Ted rief: »Eddie? Bist du wach? Ich habe noch Licht gesehen. Dürfen wir reinkommen?«
Eddie sprang mit einem Satz aus dem Bett. Er schlüpfte hastig in die noch feuchte, ekelhaft klamme Badehose, die zum Trocknen über der Stuhllehne hing, und stürzte mit dem Foto ins Bad, wo er es schief an seinen Platz zurückhängte. »Komme gleich!« rief er. Erst als er die Tür öffnete, fielen ihm die zwei Streifen Papier ein, mit denen er Thomas’ und Timothys Füße überklebt hatte. Außerdem hatte er die Badezimmertür offengelassen. Doch daran ließ sich nun nichts mehr ändern, denn Ted stand mit Ruth auf dem Arm bereits in der Tür des Gästezimmers.
»Ruth hatte einen Traum«, sagte ihr Vater. »Nicht wahr, Ruthie?«
»Ja«, sagte das Kind. »Er war nicht sehr schön.«
»Sie wollte sich vergewissern, daß ein bestimmtes Foto noch da ist. Ich weiß, daß es keines von denen ist, die ihre Mutter drüben in der Wohnung aufgehängt hat«, erklärte Ted.
»Aha«, sagte Eddie, dem es vorkam, als würde Ruth durch ihn hindurchstarren.
»Jedes Foto hat seine Geschichte«, erläuterte Ted. »Und Ruth kennt sämtliche Geschichten. Habe ich recht, Ruthie?«
»Ja«, sagte die Vierjährige wieder. »Da ist es!« rief sie und deutete auf das Foto, das über dem Nachtkästchen neben Eddies zerwühltem Bett hing. Der Stuhl, den Eddie (für seine Zwecke) dicht ans Bett gerückt hatte, stand nicht an seinem Platz; Ted mußte mit Ruth auf dem Arm einen umständlichen Bogen um ihn herum machen, damit sie sich das Foto genauer ansehen konnte.
Auf dem Foto sitzt Timothy mit aufgeschlagenem Knie in einer großen Küche auf der Anrichte. Thomas, der ein sachliches Interesse an der Verletzung seines Bruders bekundet, steht neben ihm, in einer Hand eine Rolle Verbandmull, in der anderen eine Rolle Leukoplast, und verarztet Timothys blutendes Knie. Timothy war damals vielleicht ein Jahr älter als Ruth. Thomas mochte entsprechend sieben gewesen sein.
»Sein Knie blutet, aber alles wird wieder gut, ja?« fragte Ruth ihren Vater.
»Alles wird wieder gut, er braucht nur einen Verband«, versicherte ihr Ted.
»Keine Stiche? Keine Nadel?«
»Nein, Ruthie. Nur einen Verband.«
»Er ist nur ein bißchen kaputt, aber sterben tut er nicht, stimmt’s?« fragte Ruth.
»Stimmt«, sagte Ted.
»Noch nicht«, fügte sie hinzu.
»Das stimmt, Ruthie.«
»Da ist nur ein bißchen Blut«, bemerkte Ruth.
»Ruth hat sich heute geschnitten«, erklärte Ted. Er zeigte Eddie das Pflaster an Ruths Ferse. »Sie ist am Strand in eine Muschel getreten. Und dann hat sie geträumt …«
Ruth, zufrieden mit der Geschichte vom aufgeschürften Knie und dem dazugehörigen Foto, blickte über die Schulter ihres Vaters ins Bad, wo etwas ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
»Wo sind die Füße?« fragte sie.
»Welche Füße, Ruthie?«
Eddie stellte sich so hin, daß der Blick ins Bad versperrt war.
»Was hast du gemacht?« wollte Ruth von ihm wissen. »Was ist mit den Füßen passiert?«
»Wovon redest du, Ruthie?« fragte Ted. Er war betrunken; aber selbst in betrunkenem Zustand
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