Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
sie hinter sich her; Ilona fiel infolgedessen mehr vom Hocker als dass sie ordentlich aufzustehen vermochte. Werners Art als Unhöflichkeit zu empfinden, kam ihr nicht in den Sinn; Werner war halt so, etwas forsch und manchmal auch grob, aber er meinte das nicht so . Außerdem hat er immer genug Geld in der Tasche. Und überhaupt: Männer sind eben so, wollte Ilona ihren Gedanken abschließen, ein Unterfangen, das ihr nicht gelang, denn als sie einen letzten Blick zu Manfred warf, fiel ihr wieder ein, dass es da jemanden gab, der nicht so war. „Bis später“, rief sie und es hörte sich fast wie eine Entschuldigung an. „Ja doch“, hörte Manfred Ilona noch sagen, aber das galt bereits ihrem Freund Werner, der sein Schritttempo nicht zu verringern gedachte.
Aus dem großen Tanzsaal drang Applaus. Der Mann vom Elternbeirat hat wohl seine Rede beendet und gleich würden alle die Tanzfläche stürmen, dachte Manfred sehnsüchtig. Wahrscheinlich nach „O Baby mach dich schön“, diesem Schlagerhit von Peter Kraus, mit dem derzeit fast alle Tanzkapellen ihr Programm eröffneten. Augenblicklich beschloss Manfred, sich von der Saaltür aus alles anzusehen, ein Platz, von dem aus er auch den Schankraum gut im Blick hatte.
Erst wusch er aber noch behutsam das Glas ab, aus dem Ilona getrunken hatte. Bei dem Gedanken, gleich Werner mit Ilona tanzen zu sehen, spürte er einen Stich in der Herzgegend.
*
Manfred hatte richtig vermutet. Der Beifall hatte in der Tat dem Vertreter des Elternbeirates gegolten, der bereits wieder Platz nahm, als Manfred an der offenen Saaltür Stellung bezog.
Die Tanzkapelle machte noch keine Anstalten, ihren Dienst aufzunehmen. Im vorderen Teil des Raums standen zappelig einige Männer um einen Herrn herum – ganz offensichtlich ein besonders bedeutender Herr, tippte Manfred, dafür sprach sein feiner Anzug mit nicht gerade billigem Perlonhemd, zylindrischem Hut und weißen Fingerhandschuhen. Nach einigen Minuten ging jemand auf das Podest. Seine Körpersprache und seine Mimik deuteten darauf hin, dass irgendetwas dem geplanten weiteren Ablauf des Festes entgegenstand.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind alle hoch erfreut, dass Herr Schulleiter Adolf Wegemann noch den Weg zu uns gefunden hat.“
Applaus. Wenn die Menschen feiern, wird viel geklatscht, wollte Manfred beobachten.
„Eigentlich war für das Glück, einen Besuch von unserem verehrten Herrn Schulleiter zu erhalten, die Abschlussfeier der Klasse 13 a vorgesehen. Aber da Herr Wegemann hier direkt um die Ecke wohnt, war es ihm möglich, uns ebenfalls einen Teil seiner kostbaren Zeit zu widmen.“
Wieder hörte man Beifall. Es ist beeindruckend, dass die Menschen oft für die gleiche Sache zweimal klatschen, kam es Manfred in den Sinn.
„Und noch schöner ist es, dass der Herr Schulleiter den anwesenden Lehrern soeben nicht die Bitte abschlagen konnte, ein kurzes Wort der Begrüßung zu halten.“
Erneuter Applaus. Alles klar, dachte Manfred.
Dass aus der angekündigten kurzen Begrüßung dann eine halbe Stunde wurde, überraschte Manfred nicht. Das kam bei Feiern öfter vor. Und Manfred wunderte es auch nicht, dass das dem Schulleiter niemand übel nahm. An einem solchen Abend wollte man Harmonie. Notfalls hätten die anwesenden Gäste dem Schulleiter bis zum frühen Morgen zugehört, ohne auch nur einen Moment nicht zu lächeln.
Und der Herr Schulleiter konnte reden, und wie er das konnte. Alle Achtung, fand Manfred. Den Worten der Begrüßung folgten ein Rundgang durch die Geschichte des Gymnasiums. Denn, so begründete der Schulleiter, aus dem Werden und Wachsen der Schulanstalt könnten die Schulabgänger einiges für ihre Zukunft mitnehmen. „Und nur wer sich für die Vergangenheit interessiert, ist den notwendigen Aufgaben seiner Zeit gewachsen.“ Die Anwesenden nickten eifrig. Was hält der Redner wohl für die notwendigen Aufgaben unserer Zeit, fragte sich Manfred. Etwa die atomare Bewaffnung der Bundeswehr?
Herr Adolf Wegemann gab noch zu verstehen, dass er sich bei seinen Ausführungen auf die vor kurzem erschienene Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der Oberschule stützen konnte. Aus jeder Dekade wolle er eine kurze Anekdote erzählen. Wirklich nur eine kurze, versprach der Schulleiter.
Manfred stutzte. Er hätte gern gewusst, was Dekade heißt. Die Leute hier wissen das wohl alle, die haben ja Abitur, ich eben nur Hauptschule, wusste Manfred und nahm sich vor, im Folgenden
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