Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
Telefonieren beeinflussen konnte. Und zwar immer dann, wenn das Gespräch über die Hausleitung geführt wurde, also dann, wenn Manfred sich sicher sein konnte, dass seine Frau am anderen Ende des Hörers zu erwarten war. In diesem Fall meldete er sich mit „DCDC2“, eine Aussage, die lustig wirken sollte, auch wenn sie einen ernsten Hintergrund hatte. Das Kürzel „DCDC2“ stand für ein Gen auf dem sechsten Chromosom, das mitverantwortlich für eine Behinderung war, die bei ihm kurz nach seinem achten Geburtstag festgestellt worden war. Erst vor wenigen Jahren hatte ein deutsch-schwedisches Forscherteam dieses Gen als mögliche Ursache der Störung identifiziert. Manfred war damit um eine mögliche Erklärung reicher geworden. Seitdem verfolgte er interessiert die wissenschaftliche Debatte um die Bedeutung dieses Gens, auch wenn er schon seit langer Zeit nicht mehr wirklich unter dieser Beeinträchtigung litt.
Durch seinen früher aber sehr wohl starken Leidensdruck konnte Manfred etwas mit dem Sinnspruch von der „Gnade der späten Geburt“ anfangen. Denn wer eine ganze Zeit nach ihm mit seiner Einschränkung zur Welt gekommen war, musste sich damit in der Regel nicht so quälen, wie Manfred es getan hatte. Gar nicht so sehr deshalb, weil man bald wusste, dass eine bereits in der frühen Kindheit einsetzende Therapie die Symptome merkbar lindern konnte, sondern vor allem aus dem Grund, weil die Betroffenen längst nicht mehr mit so massiven gesellschaftlichen Nachteilen rechnen mussten, wie das früher einmal der Fall gewesen war. Als faul und dumm galt man, wenn man in der Zeit, als Manfred jung war, mit dieser Beeinträchtigung aufgewachsen war. Eine höhere Schulbildung blieb den Betroffenen versagt. Freunde zu finden war ein Problem. Die Reaktion von Klassenkameraden konnte erbarmungslos sein.
Und nicht nur dort hatten die Betroffenen mit Häme und Ablehnung zu rechnen. Auch in der Erwachsenenwelt rümpfte so mancher die Nase. Und wenn man sogar in der eigenen Familie mit abfälligen Bemerkungen zu tun hatte, erschien einigen Kindern und Jugendlichen, manchmal sogar Erwachsenen, nur noch der Freitod als Ausweg.
Manfred hatte im Nachhinein nie für sich klären wollen, ob er in seinen jungen Jahren Momente der Verzweiflung erlebt hatte, bei denen er soweit hatte gehen wollen ; in Erinnerung behielt er lieber seine zuweilen originelle Art, sich gegen Schmähungen zu wehren. Mehr als einmal stand nicht er, sondern diejenigen, die ihn beleidigt hatten, blamiert da. Manfreds Schlagfertigkeit wurde von seiner Umwelt oft mit Erstaunen zur Kenntnis genommen – entsprach die große geistige und seelische Energie, die er dabei offenbarte, doch gar nicht dem Bild, das man von einem Jungen mit seiner Behinderung hatte.
Und dieser Witz, der an Ernsthaftigkeit oft kaum zu überbieten war, zeigte sich auch auf der Feier, zu der Manfred und Ilona an diesem Tag eingeladen hatten. Die durchgestrichene Zahl 156 sollte die Gäste unzweideutig auf Manfreds Beeinträchtigung hinweisen. Richtig geschrieben hätte es nämlich 165 heißen müssen.
Aber Manfred konnte halt nicht richtig schreiben.
Möglicherweise, so hatte sich Manfred bei der Planung der Feier gesagt, würden diejenigen der Gäste, die noch jung an Jahren sind, sich gar nicht vorstellen können, was es für jemanden bedeutet hat, wenn er in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in deutschen Landen seine Kindheit als Legastheniker verbringen musste.
Ilona fand eine solche Darbietung, wie sie es ihrem Mann mitteilte, „an der Grenze zur Peinlichkeit.“ Manfred war dieser Kommentar egal.
Den Sinn der groß präsentierten Ziffer 165 würde, so war sich Manfred sicher, von den Gästen schnell erfasst werden und alle miteinander ins Gespräch bringen. Ilona und Manfred wurden in diesem Jahr 70 Jahre alt. Zusammen mit ihrer 25-jährigen Ehe gab es somit gleich drei Gründe, ein rauschendes Fest zu feiern. Die drei Zahlen richtig zusammenzuzählen war eine leicht zu lösende Aufgabe.
Es war kurz nach Einbruch der Dunkelheit, als an diesem Abend im Frühherbst des Jahres 2010 die ersten Gäste eintrafen. Sie sollten sich bald verloren vorkommen in dem riesigen Saal.
Viel mehr Leute kamen nämlich nicht. Sie hatten noch rechtzeitig erfahren, dass die Feier abgesagt wurde.
Denn Manfred saß seit 20 Stunden in Untersuchungshaft.
1958
In der Neuenkirchburger Gaststätte „Am Rathaus“ wurde Abitur gefeiert. Zu den
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