Wo die verlorenen Seelen wohnen
andere Stimme verdrängte sie. Es war meine eigene Stimme, ich selbst schrie innerlich diesen Wunsch heraus. Ich schloss die Augen, weil mein Vater mir zuflüsterte, nicht auf die endlose Reihe von flehentlich dreinblickenden Gestalten zu schauen, die langsam aus den Mündern von Shane und Thomas hervorgezogen wurden. Diese verlorenen Seelen, die zu Menschen gehört hatten, die schon vor langer Zeit gestorben waren, griffen nach meinen Haaren, krallten sich in mein Gesicht, versuchten sich überall an mich zu klammern, als suchten sie bei mir ein neues Leben. Manche hatten unschuldige Gesichter und blickten mich flehend an; bei anderen waren die Gesichtszüge zu einer Fratze verzerrt und sie feixten böse. Ich hielt die Augen geschlossen, aber ich spürte ihre Nähe. Die Nähe all der Geister, die in Shanes Körper und in Thomas’ Körper und davor in Josephs Körper gewohnt hatten. Aber ich spürte auch die Nähe der Geister, die mein Vater herbeigerufen hatte, um ein Schutzschild der Liebe um mich herum zu bilden. Inmitten all des Schreckens wusste ich, dass die Liebe meines Vaters mich barg und beschützte und dass er mich nicht loslassen würde, bevor nicht alle Gefahr vorbei war.
Ich vertraute ihm, während ich in dem Wasser immer weiter nach unten sank. Ich hatte keine Ahnung, wie tief der Brunnen war oder wie viele Geisterhände inmitten des Strudels vonverlorenen Seelen um mich herum an mir zerrten, die Geiser der Toten aus Blackrock, die aus den Mündern von Shane und Thomas entschlüpft waren. Aber ich spürte auf einmal, dass sie anfingen, sich zu bekämpfen. Manche Seelen wollten sich von dem Fluch befreien und sich dem Gericht stellen, das sie erwartete, oder aber dem ewigen Vergessen anheimgegeben werden. Andere flehten mich an, ich solle doch den Mund öffnen und sie in mich hineinlassen. »Wir werden in dir weiterleben, wir werden dein Fleisch und Blut sein«, flüsterten sie. »Wir werden dich lehren, unsterblich zu sein.«
Ich wusste, dass ich mich entscheiden musste. Ich wusste, dass Shane und Thomas mir die Möglichkeit eröffnet hatten, für immer in einem Zwischenreich weiterzuleben. Ich würde vielleicht nie sterben müssen. Ich könnte ein Glied in dieser langen Kette verlorener Seelen werden, die immer wieder in neuen, jungen Körpern weiterlebten und dadurch Unsterblichkeit erlangen. Aber wenn ich mich weigerte, meinen Tod zu akzeptieren, wie konnte ich dann mein Leben richtig leben? Der Tod gehörte doch zum Leben, weil jedes Leben eben auch ein Ende hat, genauso wie einen Anfang. Ich wollte nicht ewig leben, denn das bedeutete, kein richtiges Leben als Mensch zu haben. Ich würde jetzt und hier in dem Brunnen ertrinken, das wusste ich, und ich entschied mich ganz bewusst dafür. Mit fest geschlossenen Augen bereitete ich mich darauf vor, gleich dem Tod zu begegnen.
Ich spürte, wie Shane und Thomas sich ein letztes Mal an mich zu klammern versuchten. Aber die Geister meiner Ahnen schützten mich. Hand in Hand umringten sie mich. Die Stimme meines Vaters sagte: »Ich war schwach und unvollkommen, mein Sohn. Kein Sterblicher ist jemals vollkommen. Man kann nicht den perfekten Song schreiben oder das perfekte Lebenführen. Vergeude dein Leben nicht damit, der Unsterblichkeit nachzujagen. Lebe dein Leben nicht im Schatten eines anderen. Denk immer daran, dass ich dich liebe. Freue dich an jedem Tag, denn das Leben währt nicht ewig.«
Dann war das Gefühl zu ertrinken auf einmal vorbei. Stattdessen fühlte ich mich in rasender Geschwindigkeit nach rückwärts gezogen, als würde das Leben auf einmal zurückgespult. Shane und Thomas schrien immer noch, aber ihre Stimmen verschwammen allmählich. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie in die Tiefe stürzten – Fegefeuer, Hölle, ewiges Vergessen oder vielleicht sogar in den Himmel –, und ich hatte auch keine Ahnung, was mich erwarten würde, wenn ich die Augen aufschlug. Plötzlich hörte das Gefühl von rasender Beschleunigung im Rückwärtsgang auf. Ich wusste, dass mein Vater nun noch einmal etwas zu mir sagen würde, das letzte Mal. Ich wusste auch, dass seine Liebe mir geholfen hatte, nicht wie so viele andere vor mir dem Bösen zu verfallen. Dadurch war mein sehnlichster Wunsch erfüllt worden. Ich hatte es zurück, das kostbarste Geschenk, das man bekommt: mein Leben. Er hatte mir mein eigenes Leben wiedergeschenkt.
E PILOG
J OEY
I ch hatte nicht die geringste Ahnung, was mich erwartete. Damals in der Nacht, als ich meinen Tod
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