Traveblut
1
Er lauschte in die Dunkelheit. Er war sich sicher, bereits ihren leisen Atem hören zu können. Das leichte Keuchen in der kalten Aprilluft beruhigte ihn, weil er wusste, dass er sich nicht geirrt hatte. Alles lief nach Plan. Gleichzeitig spürte er Adrenalin in seinen Blutbahnen. Der Gedanke, sie umzubringen, elektrisierte ihn.
Ihre Schritte waren jetzt ganz nahe. So nahe, dass er sich hinunterbeugte und hinter dem Stamm der Linde wie ein Raubtier in Stellung ging. In wenigen Sekunden würde sie direkt an ihm vorbeikommen.
Ihr Atem war jetzt so laut, dass er glaubte, sie stünde hinter ihm. Plötzlich überkam ihn dieses Schamgefühl, das er immer zu unterdrücken versucht hatte. Gefolgt von dem unbändigen Hass, der sein ständiger Begleiter geworden war.
Da war sie. In der Dunkelheit erkannte er nur einen Schemen, obwohl sie bloß wenige Meter entfernt an ihm vorbeilief. Für einen Moment schloss er die Augen. All die schrecklichen Bilder tauchten wieder auf. Seit all den Jahren waren sie da. Nichts hatte jemals geholfen, was er auch versucht hatte. Der Schmerz war immer wieder zurückgekehrt.
Er öffnete die Augen und blickte in die Dunkelheit. Sie hatte sich bereits so weit von ihm entfernt, dass er ihre Umrisse nicht mehr erkennen konnte. Er tastete nach dem Tuch in seiner Jackentasche, sprang hinter dem Baum hervor und rannte hinter ihr her. Mit einem Satz stürzte er sich auf sie, packte sie von hinten am Hals und drückte das mit Chloroform getränkte Tuch auf ihren Mund. Dann schleppte er sie abseits des Weges, dorthin, wo die Bäume ihm Schutz gaben. Sie wehrte sich und trat hart nach ihm. Doch körperliche Schmerzen spürte er in diesem Zustand nicht mehr.
»Halt still!«, zischte er. »Je mehr du dich wehrst, desto mehr werde ich dir wehtun.«
Sie versuchte zu schreien, doch der einzige Laut, der durch das Tuch drang, war ein angsterfülltes Gurgeln.
Mühevoll drängte er sie zu Boden. Noch immer zappelte sie, doch ihre Bewegungen erlahmten allmählich.
Er lockerte den Griff, legte das Tuch beiseite und setzte sich auf ihren Brustkorb, ihre Arme mit seinen Beinen fixierend. Ihr Blick irrte orientierungslos umher. Trotz der Dunkelheit wollte er ihr in die Augen sehen. Wollte spüren, wie sie begriff, was es heißt, Angst zu haben.
Plötzlich schien es, als wollte sie schreien, um Hilfe rufen. Aber er war schneller und versetzte ihr zwei heftige Schläge ins Gesicht, dass Blut aus Mund und Nase trat. Benommen blieb sie auf dem feuchten Gras liegen.
Er packte sie an den Armen und zog sie zurück über den Schotterweg in Richtung der kleinen Böschung, die zur Kanaltrave hinabführte. Dort hielt er noch einmal kurz inne und sah sich um. Obwohl es gerade einmal halb neun war, schien niemand mehr am Kanal unterwegs zu sein. Keine Jogger, keine Spaziergänger oder Nachtschwärmer. So, wie er es gehofft hatte.
Vorsichtig rollte er ihren Körper den Abhang hinunter, immer auf der Hut, nicht selbst auf dem feuchten Gras abzurutschen und ins Wasser zu fallen.
Als er endlich unten angekommen war, zog er erneut das chloroformgetränkte Tuch aus der Tasche und drückte es ihr vors Gesicht. Unter Wasser würde sie andernfalls zu schnell wieder das Bewusstsein zurückerlangen.
Er presste seine Hände so fest auf ihren Mund und Hals, dass er einen Moment lang befürchtete, sie bereits umgebracht zu haben. Das wollte er auf keinen Fall. Sie sollte ertrinken. Hilflosigkeit spüren, wenn sie die Augen aufschlug und ihre ausweglose Situation realisierte. Die Panik durchleben, die auch er all die Jahre verspürt hatte.
Ihre Hände an seinen Oberarmen bemerkte er sofort. Im nächsten Augenblick schnellte ihr Kopf hoch. Sie riss die Augen auf und fuhr ihm mit den Fingernägeln wie eine Raubkatze durchs Gesicht. Obwohl er perplex über ihr Aufbäumen war, reagierte er schnell und hämmerte ihren Kopf zurück auf den Steinboden der Uferbefestigung. Das Chloroform hatte sie nicht ausknocken können, dann musste es eben auf die harte Weise passieren. Er legte seine Hände um ihren Hals und drückte so lange zu, bis sie nur noch röchelte und von ihren Augen bloß noch das Weiße zu sehen war. Als er trotz der Dunkelheit erkennen konnte, dass sie bereits blau anzulaufen begann, ließ er von ihr ab. Langsam schob er sie auf die Seite und stieß sie mit den Füßen voran ins Wasser. Dann legte er sich bäuchlings auf den Boden, den Kopf nur knapp über die Wasseroberfläche gebeugt.
Im ersten Augenblick glaubte er,
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