Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
Vom Netzwerk:
aß er sieben Tage lang nichts. Schweres Fieber begleitete diese harte Diät. Ich erkannte, dass er sterben würde.
    Da er sich am Tage des heiligen Severin, am siebenundzwanzigsten November, noch einmal deutlich schlechter befand, nahm er in tiefer Frömmigkeit die Sterbesakramente entgegen. Und ich bezweifle nicht, dass es ihm eine Freude war, seinen Tod mit dem dieses heiligen Eremiten zu verbinden.
    Am frühen Abend trat Kircher in die Agonie ein, & obgleich seit vielen Monaten auf diesen Moment vorbereitet, vergossen die Patres Ramón & Ampringer sowie ich selbst heiße Tränen an seinem Lager. Gegen elf Uhr nachts, als ich schon nicht mehr zu hoffen wagte, er würde jemals wieder die Augen öffnen, blickte Kircher mich an, um ein letztes Mal das Wort an mich zu richten.
    »Caspar, die Waage?«, fragte er.
    Ich nahm seine Hand in die meine, um ihn zu beruhigen: Unaufhörlich seine Anweisungen befolgend, hatte ich dafür gesorgt, dass die Waage sich im Gleichgewicht befand.
    Da aber lächelte er sanft, schloss die Augen & verschied. Achtundsiebzig Jahre, zehn Monate & siebenundzwanzig Tage war er auf Erden gewandelt … In dieser selben Sekunde hörten wir, seiner Vorhersage getreu, das Glöckchen läuten, welches eine jede Bewegung der Waage anzeigte! Zum großen Erstaunen der im Raume Gegenwärtigen konnte festgestellt werden, dass Kirchers Seele genau einen halben Skrupel wog.
    Der Tod meines Meisters betrübte mich mehr, als ich gedacht. Obgleich das Leben ihm zur Last geworden & er es nur noch mit Mühe & Schmerzen trug, war ich untröstlich ob dieses Verlustes. Sein erleuchteter Geist, seine Frömmigkeit & Weisheit, die ihm den Respekt aller eintrugen, welche den Vorzug hatten, ihm zu begegnen, sorgten vor allem anderen dafür, dass man ihn liebte. Nie zuvor hat ein Mann die Bewunderung seiner Zeitgenossen so sehr verdient wie er; er war ein Mann der Antike, der Verehrung würdig & eine Zierde der Wissenschaft. Ihm jedoch in dem Zustande, in dem er sich befand, ein längeres Leben zu wünschen, wäre ein Wunsch gegen ihn gewesen. Sein Geist hatte nie nachgelassen, nur in der letzten Zeit war er weniger tätig geworden, da seine Sinne nach & nach schwächer wurden, so dass er, da er an den Dingen dieser Welt keinen Anteil mehr nehmen konnte, in die andere hinüberwechseln musste, um dort das Heil & für seine Seele ewige Ruhe zu finden.
    Kirchers Beisetzungsfeierlichkeiten waren großartig; auf dem mit großem Pomp begangenen Weg zur Chiesa del Gesù wurde sein Leib von der unzählbaren Menge derer begleitet, die ihn geliebt oder bewundert hatten. In Trauer vereint waren da Mönche aus der Trinità dei Monti, Dominikaner sowie Priester & Brüder aus allen Orden; Bischöfe, Kardinäle, Fürsten & sogar Königin Kristina von Schweden, die in höchstem Maße getroffen schien. Die Würdigung jedoch, die Athanasius am meisten gefreut hätte, kam von der Kohorte früherer Studenten, die dem Trauerzug folgten: Aus Kollegien in Deutschland, Frankreich, Schottland … überallher kamen jene, die einst seinen Unterricht genossen hatten, um ihn zu beweinen, ihn, den sie den »Lehrer der hundert Künste« genannt hatten! Die Totenmesse, von sämtlichen Jesuiten des Collegium Romanum gesungen, war herrlich in ihrer Andacht. Darauf folgte die
Leçon des ténèbres
von Couperin, eine nur zu gut geeignete Musik, um einen Mann zu ehren, der sein Leben lang das Dunkel bekämpft hatte, um den Ruhm des Lichts umso stärker zu feiern …
    Meine lange Aufgabe endigt hier, mit der Beerdigung dessen, dem sie gewidmet war. Kirchers Wunsch gemäß, liegt sein Herz zu Füßen der Madonna in Mentorella begraben. Ich bin heute in dem Alter, das mein Meister erreichte, und die Krankheiten, unter denen ich leide, lassen mich hoffen, ihn baldig wiederzusehen. So bitte ich dich, Leser, geselle deine Gebete den meinen bei, auf dass der Herr mir diese Gnade endlich gewähre, & vertiefe dich manches Mal in jenes, das mein Meister eines Tages mit seinem eigenen Blute zu schreiben sich nicht zu schade war:
    Oh große und bewundernswürdige Mutter Gottes! Oh Maria, reine Jungfrau! Ich, Dein sehr unwürdiger Diener, werfe mich Dir zu Füßen in Erinnerung an all die Wohltaten, die Du mir seit meiner jüngsten Kindheit hast angedeihen lassen, & schenke mich Dir ganz, ich schenke Dir mein Leben, meinen Leib, meine Seele, all meine Taten & mein gesamtes Werk. Vom Grunde meines Herzens spreche ich die geheimsten Wünsche vor Deinem

Weitere Kostenlose Bücher