Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Er legt seinen Arm um mich, das ist seine Antwort. Er ist den ganzen Tag rumgerannt und will fernsehen und runterkommen. Ich habe den ganzen Tag ferngesehen und will mich bewegen. Es ist, wie es immer ist. Wir sind zusammen, und wir sind allein.
Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter.
»Schreibst du morgen?«, frage ich.
»Ich weiß nicht«, sagt Alex.
»Ich weiß nicht« heißt Ja. Und es heißt, dass ich morgen früh wieder dran bin.
I
ch gehe in die Küche, gieße mir ein Glas Rotwein ein und mache den Fernseher an. Das Flugzeug, die Türme, die Wolke, die rennenden Menschen, die Bärte, die Experten, die Landkarten, eine Endlosschleife. Ich schaue auf den Bildschirm wie in ein Aquarium, er beruhigt mich. Nach einer Weile setzt sich Anja dazu. Sie würde gern nochmal aufs Dach gehen, sagt sie, aber ich kann nicht mehr. Ich war heute schon auf dem Dach. Sie fragt mich, mit wem ich telefoniert habe, und ich sage es ihr.
»Schreibst du morgen?«, fragt sie. Ich zucke mit den Schultern. Sie lächelt.
An einem normalen Tag würde sie jetzt sagen: »Ach, ich dachte, du wolltest aufhören mit dem Beruf.« Ich würde antworten, dass dies ja immer noch Teil der allerletzten Geschichte ist. Sie würde mich an meine guten Vorsätze aus der Vergangenheit erinnern. Aber dies ist kein normaler Tag, und so sitzen wir auf dem Fußboden vor dem kleinen Sony-Fernseher und schauen auf die Bilder, die wir schon kennen. Wir lehnen aneinander, trinken Wein und schweigen. All die Dinge, die ich Anja heute sagen wollte, bleiben ungesagt, weil ich glaube, dass sie sie weiß. Vielleicht geht es den schweigenden Ehepaaren in den Restaurants, die wir normalerweise so bedauern, ganz genauso. Vielleicht spüren sie die Gespräche, die sie führen könnten. Vielleicht müssen sie mir gar nicht leid tun. Irgendwann gibt Anja mir einen Kuss, löst sich von meiner Schulter, bringt ihr Glas in die Küche und geht zur Treppe.
»Ich steh morgen mit Mascha auf«, sagt sie.
»Ich komme gleich«, sage ich.
»Ja«, sagt sie.
Die Treppen knarren, die Badtür quietscht, die Wasserleitungen ächzen. Dann ist Stille, ich stelle den Fernsehton aus, weil ich ihn nicht brauche. Es ist ganz ruhig, nur der riesige amerikanische Kühlschrank pumpt.
In den ersten sechs Wochen, im Herbst 1999, lebte ich mit dem Kühlschrank und dem kleinen Sony-Fernseher ganz allein in dem großen Haus. Der Fernseher war die erste größere Anschaffung, die ich in Amerika machte. Ich habe ihn bei PC-Richards auf der Atlantic Avenue gekauft, hierhergeschleppt und angeschlossen. Er hat sofort funktioniert und ein paar Abende lang habe ich nichts vermisst. Der Fernseher und der Kühlschrank, meine beiden Kumpels, schienen alles zu sein, was ich brauchte. Ich bin so gern allein, aber jetzt wäre es furchtbar.
Vor vier Tagen habe ich in Hamburg meinen ehemaligen Herausgeber Erich Böhme besucht. Böhme, der lange Jahre Chefredakteur beim
Spiegel
gewesen war, kam Anfang der 90er Jahre zur
Berliner Zeitung
. Er war der erste große Westjournalist, den ich kennenlernte, und er machte mich vom Lokalchef zum Reporter. Ich war 27 Jahre alt damals, vielleicht sah er irgendetwas in meinem Blick, vielleicht fand er den Lokalteil auch nur zu schwach. Er hat mich beobachtet und begleitet, und bevor ich zum
Spiegel
ging, habe ich mich mit ihm beraten. Er hat mir zugeraten. Ich traf Böhme vorige Woche zufällig in Berlin, und er lud mich spontan nach Hamburg ein. Wir gingen in ein kleines italienisches Kellerrestaurant, das ihn irgendwie an New York erinnerte. »Sie sind doch Ami«, sagte er und kicherte. Wir aßen Fisch, tranken zwei Flaschen Weißwein, jeder einen Grappa, und dann gingen wir noch zu ihm nach Hause, um einen guten Roten zu probieren. Er zeigte mir sein Haus in Altona, ein riesiges, wunderschönes Haus, mit beeindruckenden Möbeln und kostbaren Bildern an den Wänden. Aber es war leer, keine Geräusche. Zum Weintrinken gingen wir in den Keller, ein winziger Verschlag, mit flachen Decken, an den Wänden hingen Holzbretter, auf die mit Lötkolben lustige Sprüche gebrannt waren. Hier schien sich Erich Böhme wohlzufühlen. Wir tranken zwei Flaschen wunderbaren Rotwein und mein alter Herausgeber erzählte mir Geschichten aus seinem Leben. Es waren Geschichten voller Verluste, Sehnsüchte und einer großen Einsamkeit. Nachts um drei stolperte ich betrunken zu meinem Taxi, Böhme stand in der Tür, winkte. Ich hatte das Gefühl, ihn in dem großen, schönen
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