Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
ich stand wie ein nasser Hund. Auf dem Küchentisch stand ein einsamer Teller, mein Teller.
Anja hat mir später gesagt, sie habe sich Sorgen gemacht, als es anfing zu blitzen, aber ich glaube, sie war immer noch sauer, weil ich zehn Tage länger in Berlin geblieben bin und sie allein mit den Kindern nach New York zurückfliegen musste. Das Schuljahr fing an, aber ich wollte noch zwei Geschichten zu Ende recherchieren, die in Deutschland spielten. Eine handelte von Gregor Gysi, einem Ostberliner Sozialisten, der demnächst Oberbürgermeister von Berlin werden will, die andere von Nadja Bunke, der uralten Mutter von Tamara Bunke, die einst mit Che Guevara im bolivianischen Dschungel starb, beim Versuch die Revolution zu exportieren. Gysi und Che und die Weltrevolution. Das sind immer noch meine Themen, obwohl ich jetzt schon zwei Jahre für den
Spiegel
in New York bin. Ich habe meine Familie vor zwölf Tagen nach Tegel gebracht, sie geküsst und zum Abschied gewunken, und dann bin ich zurück zu meinem Mietwagen gegangen. Ein schwarzer Chrysler im Retrolook, der mich an das Auto auf der ZZ-Top-Platte
Afterburner
erinnerte. Ich war traurig, aber auch erleichtert, und ich glaube, meine Frau weiß, dass ich diese Erleichterung verspüre, und womöglich beneidet sie mich sogar darum.
Ich war so lange weg, und dann renne ich gleich wieder los. Das denkt sie, darum geht's doch. Wir versuchen ja, gemeinsam zu joggen, aber Anja läuft mir nicht schnell genug. Ich renne dann immer ein Stück vor und wieder zu ihr zurück, hin und her, wie der Hase in
Hase und Igel
. Ich umkreise meine Frau wie eines dieser Hütchen, die die Assistenztrainer auf dem Fußballplatz aufstellen. Es macht mir keinen Spaß, und sie sagt manchmal, sie hasst es, wenn ich vor ihr laufe. Ich glaube einfach, dass es keine gute Idee ist, zusammen zu laufen als Ehepaar, vor allem wenn ein Ehepartner sich auf den Marathon vorbereitet und der andere reden will. Es gibt Dinge, die man nicht zusammen machen muss. Ich finde diese Paare, denen man ansieht, dass sie ihre Sportsachen zusammen eingekauft haben, auch irgendwie bedauernswert.
Die Trucks auf der 4 th Avenue werden etwas lauter, es gibt immer noch keine Vögel, und ich würde gern noch ein wenig schlafen. Früher habe ich vor dem Einschlafen an die schönsten Tore gedacht, die ich in letzter Zeit geschossen habe, aber seit wir in New York leben, spiele ich keinen Fußball mehr. Ich laufe, und Laufen ist nur ein endloser Strom, der die Orte miteinander verbindet, an denen ich bin. Ich habe immer meine Laufschuhe dabei.
Es war ein langer Sommer, und ich bin die ganze Zeit gerannt. Immer gerannt, sogar in Venedig, wo wir im Juli zu unserem fünften Hochzeitstag waren, hakenschlagend über die Brücken; in Wien, wo wir Freunde besuchten, über den Kies irgendwelcher Schlossparks; auf Usedom, wo wir Urlaub machten; um den kleinen Brandenburger See am Wochenendgrundstück meiner Eltern, wo wir den dritten Geburtstag meiner Tochter Mascha feierten, und dann natürlich in Berlin, wo ich die letzten zwei Wochen verbrachte, um Gregor Gysi und Nadja Bunke besser kennenzulernen. Ich habe im Maritim Hotel in der Friedrichstraße geschlafen, das früher Metropol hieß und einen Intershop beherbergte, in dem ich Anfang der 80er die erste Levi's Jacke meines Lebens kaufte. Ich war sechs- oder siebenmal da, damals, es war der bedachtetste Kauf meines Lebens. Vorgestern bin ich noch durch den Tiergarten gejoggt, bevor ich zum Flughafen fuhr. Gestern Abend rannte ich dann endlich wieder um den Prospect Park in Brooklyn, der abwechslungsreicher ist als sein Berliner Bruder, grüner und anspruchsvoller. Es ist die Strecke auf der Welt, die ich inzwischen am besten kenne, zweikommaacht Meilen die Runde, dazu vielleicht noch eine halbe Meile hin und eine halbe zurück.
Der Gedanke an die Gleichförmigkeit der Runden, das langsame Auf und Ab der Strecke, wiegt mich dann in einen leichten Morgenschlaf, auch wenn ich mir nicht sicher bin. Es ist mehr so ein Gefühl, dass mir ein kleines Stück Bewusstsein fehlt, bis zu dem Moment, in dem ich die ersten Flugzeuge höre, die über unserem Haus kreuzen, und auch das Licht auf meinen Lidern spüre.
Das Licht kommt von Osten. Es fährt, so stelle ich mir das vor, wie eine Hollywoodkamera über den Atlantik, über die schmalen Inseln vor der Ostküste New Yorks, streicht über das flache, vorwiegend dreistöckige Brooklyn hinweg, gelangt ungehindert von Wolkenkratzern direkt in
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