Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
World Trade Center-Staub, das sieht man sofort, warum weiß ich auch nicht. Ich habe nicht mehr an den Staub auf meinen Schuhen gedacht, und ich glaube, er ist dort auch nur noch, weil es sich um halbhohe schwarze Stoffschuhe handelt. Auf dem Stoff klebt die Asche natürlich besser als auf Leder. Jedenfalls zeigt Kate auf die Schuhe und fängt plötzlich an zu weinen.
»Deine Schuhe«, sagt sie.
Ich nicke. Und dann kommt Terry hinzu, der ganz blass ist. Wir sehen alle drei auf meine Schuhe, Kate beruhigt sich. Und weil ich keine Lust habe, meine Geschichte zu erzählen, frage ich Terry nach der seltsamen Szene, die ich eben aus unserem Badfenster beobachtet habe.
Sie hatten sich dort spontan versammelt, um einen mittelöstlichen Busch zu pflanzen, den Laura in einem Baumarkt besorgt hatte, sagt Terry. Sie hoben ein kleines Loch aus und beerdigten dort ein paar der Papierfetzen, die aus dem World Trade Center bis hierher nach Brooklyn geweht waren. Wer wollte, sprach einen Segen oder ein Gebet. Laura bat alle, für die Opfer zu beten, für die Hinterbliebenen der Opfer. Am Ende wollte sie, dass wir auch für die Terroristen beten, sagt Terry. Da sei er gegangen. Er könne jetzt nicht für die Terroristen beten. Kate schüttelt den Kopf, sie habe ihm ja gleich gesagt, dass so eine Hinterhofversammlung Unsinn sei. Es bringe nichts. Ich grinse schief. Es ist die erste komische Geschichte, die ich seit Stunden höre. Der mittelöstliche Busch, die Kinderpsychologin Laura, die Terroristen und Terry. Es ist schwer, sich zu so einer Tragödie in Beziehung zu setzen, aber Terry kommt aus dem Mittelwesten, er will irgendetwas tun. Er hat Maeve die Zeichnung machen lassen. Und das Verbotskreuz. Morgen will er sich Gummistiefel kaufen, eine Atemmaske und ein Fahrrad, um am
Ground Zero
mitzuhelfen. Man muss jetzt was machen. Kate sagt, dass ihr Sender für den nächsten Monat eine dreiteilige Miniserie von
Law & Order
geplant hatte, bei der es um einen terroristischen Anschlag auf New York gehen soll.
»Das fällt ja dann wohl aus«, sagt sie.
Terry nickt, und aus irgendeinem Grund nicke auch ich, als sei ich ein Experte für amerikanische Fernsehproduktionen. Und dann sage ich, dass ich jetzt wirklich schnell zu Anja und den Kindern müsse.
I ch sehe Alex vor den anderen. Liz' Mutter stellt gerade Teller auf den Tisch, als ich einen Schatten an der Tür erblicke. Er streicht sich mit der Hand durchs Haar, bevor er auf den Klingelknopf drückt.
»Alex«, ruft Liz' Mutter, läuft zur Tür und umarmt meinen Mann wie einen heimgekehrten Sohn. Liz läuft ihrer Mutter hinterher, John steht vom Tisch auf. Mascha kommt die Treppe hinuntergerannt. Alex nimmt sie auf den Arm und für einen Moment mache ich mir Sorgen, dass er anfängt zu weinen. Wir schauen uns an. Dann nimmt er mich in den Arm und lässt mich erst wieder los, als er John seinen Gin Tonic abnimmt.
Jetzt erst fällt mir auf, dass er ein grünes Lacoste-Shirt trägt. Er sieht aus, als würde er zum Golfspielen gehen.
G
ail öffnet die Tür schwungvoll, sie lächelt, schwankt leicht. Eine ältere, runde Dame mit einer spitzen Nase. Weiße Haare, rote Wangen. Sie hat bereits mit den Gin Tonics begonnen, denke ich, als sie mich an ihre Brust zieht. Ich blinzle über ihre Schulter in das Souterrain ihres Hauses, wo sich das Familienleben abspielt.
Mascha kommt sofort auf mich zugerannt. Sie fliegt in meine Arme. »Daddy is back.« Ich küsse sie, rieche ihre Haare – ein zappelndes, kleines Äffchen, das sich an mir festklammert. Eine Geste, auch für ihre Freundin Elise. Wir sind jetzt auch wieder komplett. Eine ganz normale Familie.
Über den Kopf meiner Tochter schaue ich Anja an, die lächelt, ein Glas in der Hand. Sie steht ganz still, kein Bruch ist in ihrem Lachen, kein Vorwurf, nur Zufriedenheit. Ich grinse schief, nicke den anderen zu.
Liz fällt mir um den Hals, John fragt, ob ich einen Gin Tonic will, ich sage: »Ja, gern.« Ich rieche das Essen, in dem Gail, ein Weinglas in der Hand, rührt. Es duftet nach Fleisch, und während ich das alles mache und denke, bewege ich mich auf Anja zu, die am Tresen steht und mich anlächelt, ganz still. Und dann erreiche ich sie und nehme sie in den Arm. Sie weint nicht und ich weine auch nicht, obwohl es der Moment für Tränen wäre. All die Versprechen in der Dunkelheit habe ich ihr gegeben. Ich habe mit ihr geredet. Sie ist der wichtigste Mensch in meinem Leben, aber wir stehen hier in
Weitere Kostenlose Bücher