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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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aber ich konnte mich dennoch nicht zurückhalten. Richtig und falsch hatten sich vermischt, vielmehr wanderten wir wieder einmal auf der Grenze, wo der Unterschied verschwunden war.
    »Wie ist es dazu gekommen?«
    Ich mußte nicht mehr sagen. Die Frage war kurz, aber andererseits auch reichlich klar. Er schüttelte den Kopf mit einem melancholischen Lächeln. Das schon genügte, um seine Niederlage auszudrücken. Mit seinen Worten aber, die nicht nur an mich, sondern auch an ihn selbst gerichtet zu sein schienen, versuchte er uns wohl beide zu überzeugen.
    »Anfangs lief es gut. Meine Mutter tat ebenfalls ihr möglichstes, damit sie sich wohl fühlte. So sehr, daß ich mich wunderte … Doch mit der Zeit … Also ich weiß nicht, es verging ein Monat ungefähr, da fing sie an, sich zeitweise wieder in sich zu vergraben. Manchmal blieb sie stundenlang in ihrem Zimmer. Sie sprach weniger, ging lange versunken umher. Mutter und ich wußten nicht, was wir tun sollten. Wenn wir nach draußen gingen, bekam sie immer mehr Angst vor dem, was sie in der Umgebung sah. Ich bemerkte diese Angst. Wenn wir zusammen waren, schien ihr Bewußtsein noch viel wacher zu sein, glaub mir. Nicht etwa, weil sie viel gesprochen hätte, vielmehr bemerkte ich diese Wachheit in ihren Blicken … Verstehst du, so wie sie die Menschen in ihrer Umgebung, ihr Leben ansah, wie sie Fernsehen schaute, auf dem Dampfer, im Bus, morgens, abends, überall, wo unser Leben sich abspielte … Dabei … Dabei hat sie sich, während sie wacher wurde, vorbereitet auf einen diesmal viel längeren, noch viel tieferen Schlaf. Das haben wir alle nicht bemerkt. Niemand von uns … Vielleicht nicht einmal sie selbst … Kannst du den Widerspruch erkennen? … Während sie zurückkehrte, entfernte sie sich viel weiter, verstehst du? … Einmal wollte sie, wohl unter dem Eindruck einer Fernsehsendung, ich solle sie in ein Einkaufszentrum bringen. Ich muß nicht sagen, daß ich derartige Orte hasse. Aber wenn sie es wollte, mußten wir hingehen. Wir sind auch gegangen … Du hättest ihre Verwirrung dort sehen sollen. Sie bekam große Augen. Sie hat sich wohl auch ein wenig gefürchtet … Als wir rauskamen, haben wir ein Taxi genommen. Was sie sagte, habe ich immer noch im Ohr: ›Was ist das für eine Stadt? … Sie erdrückt einen ja! Mir ist, als wäre ich verprügelt worden.‹ Da stand mir der Sinn nicht nach einer Predigt über die Konsumgesellschaft, die Entfremdung! … Ich konnte nur sagen: ›Ja, ich weiß, dieses Gedränge und der ganze Krach …‹ Ich habe versucht, sie an ein Leben zu gewöhnen, dem sie jahrelang ferngeblieben war, habe versucht, sie mit der Realität zu konfrontieren, auch wenn diese brutal war. Ah, hätte ich ihr doch vorgeschlagen, an einen viel ruhigeren, stilleren Ort umzuziehen, wenn sie das wollte … Woher konnte ich ahnen, was und wie etwas in ihr zerbrach, langsam, still und heimtückisch? … Als hätten die Lichter der Stadt den Weg in die Finsternis gewiesen … Ich habe davon nichts geahnt, ich habe nichts von dem, was sie gefühlt hat, gewußt. Ich konnte auch nicht wissen, daß sie zwischen der Welt, in der wir sie sehen wollten, und ihrer inneren Welt mit jedem Tag einen tieferen Graben grub. Auch Zafer Bey hat ihren Zustand nicht gesehen. Ich habe ihm einmal, als ich ihn besuchte, von diesen Schwankungen erzählt. Er sagte, wir müßten diese Zustände als etwas Natürliches nehmen. Zweifellos hatte er aus seiner Sicht recht. Im Grunde dachte ich genauso. Was ich von seiten des Arztes hörte, beruhigte mich. Obwohl ich sah, daß Şebnem sich nicht nur vor dem fürchtete, was sie in ihrer Umgebung sah, sondern auch vor dem, was sie im Fernsehen, in den Nachrichten und in den Feuilletonprogrammen anschaute … Die Veränderungen waren für sie erschütternd. Uns geht es anders. Das Gift ist uns ganz langsam injiziert worden. Vielleicht haben wir deswegen nicht wirklich bemerkt, wohin wir geraten sind. Doch für sie war die Situation anders. Die Zeit war für sie irgendwo stehengeblieben, dann stürzten die Ereignisse auf sie ein und wirkten sich aus … ›Der Lack ist abgebröckelt, fürchterlich abgebröckelt‹, hat sie einmal gesagt, als sie im Fernsehen eins jener Unterhaltungsprogramme anschaute. Dabei war die Grundlage des Gezeigten ebendieser Lack. Vielleicht meinte sie einen Lack ihrer eigenen Art. Dann kamen die Tage, an denen sie sich lieber in ihr Zimmer zurückzog. Wir haben ihr immer die Freiheit gelassen,

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