Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
inzwischen gelernt, auf keinen Fall das aufzuschieben, was man leben mußte. Wir wußten, daß jedes Aufschieben im Grunde bedeutete, das Leben irgendwie zu verpassen, ja zu verscherzen … Andere mochten warten. Ich würde dieses Mal nicht warten. Am schönsten wäre es gewesen, in diesem Augenblick das Auto ganz plötzlich auf die Straße Richtung Çanakkale zu lenken. Doch so weit waren wir noch nicht. Außerdem befanden wir uns nicht in einem Roman. Dennoch hatte mich das, was ich erlebt hatte, viel mehr gelehrt, als ein Roman mich hätte lehren können. Es gab nun noch einen anderen Grund, daß ich jene Nacht lieben konnte. Wann und wo hatte ich zum letzten Mal gedacht, daß der Tod und das von ihm ausgelöste Gefühl das Leben nur um so stärker spürbar machten? …
Wen hatten wir eigentlich gesucht?
Einige Tage nach dieser unvergeßlichen Nacht fuhr ich zusammen mit Çela in den erträumten Urlaub. Es war keine zweite Hochzeitsreise, wie manche Leute hätten denken können. Eine derartige Erwartung hatten wir nicht. Wir wollten lediglich ausruhen und womöglich jenen Spiegel intensiver berühren, der uns vorgehalten wurde, uns in ihn versenken. Das Wasser, in dem wir uns all die Jahre hindurch sicher gefühlt hatten, war trüb geworden … Aus diesem Grund redeten wir auch miteinander, wir redeten miteinander, soviel wir konnten. Genauer gesagt redete vor allem ich, und sie hörte zu. Ich erzählte ihr noch einmal, wie ich damals, nachdem alle anderen Mitglieder der ›Truppe‹ weggegangen waren, alleine in Istanbul gelebt hatte, von meinen Jahren an der Universität, von jenem 1. Mai, 32 vom 16. März, 33 vom Beyazıt-Platz, von Sahaflar und dem Çınaraltı Café, 34 von der Cinemathek, 35 von dem Putsch, der uns alle wie ein Lastwagen überfuhr. Von meinem Londoner Abenteuer … Natürlich gab es auch Zeiten, die wir dem Schweigen vorbehielten, in denen wir unsere Bücher zu lesen versuchten, in denen wir Wein tranken, in denen wir über unsere Kinder, über die Schauspieler der ›Truppe‹ und über unser Schicksal in diesem Land sprachen … Später dann machten wir uns auf den Heimweg … Ein Leben erwartete uns, das wir soweit wie möglich fortsetzen würden, trotz allen Verlassenwerdens und aller Verletzungen, die zu ertragen wir gezwungen waren …
Als ich zurückkam, fand ich in meiner Mailbox kurze Briefe von Şeli und von Niso. Yorgos hatte eine Karte geschickt. Sie waren alle wieder in ihren Ecken. Das Leben ging seinen normalen Gang. Şeli schrieb, sie würde diese Reise nie vergessen, weil sie das, was sie seit Jahren hatte erleben wollen, nun endlich hatte erleben können, und daß sie ihr gegenwärtiges Leben mit anderen Augen betrachten könne. Yorgos schrieb, er fürchte sich nun nicht mehr vor Istanbul und glaube, er habe mit dieser stets aufgeschobenen Rückkehr einen der richtigsten Entschlüsse seines Lebens gefaßt … Beide dankten mir mit unterschiedlichen Worten und auf ihre persönliche Weise dafür, daß ich die Brücke zwischen ihnen neu gebaut hatte, und drückten ihre Absicht aus, sich öfter mit allen zu treffen. Ein weiteres Detail gab es nicht. Aus ihren Worten konnte ich lediglich dieses Ergebnis und den Glauben an die Gemeinschaft herauslesen. Vielleicht sollte ich dies für das eigentlich Wichtige halten. Vielleicht sollte ich wieder an einer Grenze haltmachen, sie nicht überschreiten … Doch ich wußte nun, daß sie ihr Leben, das an unterschiedlichen Ufern Zuflucht gesucht hatte, nicht wie bisher weiterleben würden. Zumindest das wußte ich.
Die Haltung von Niso war nicht sehr viel anders. Er schrieb außerdem, daß er wegen der Krankheit seiner Mutter nun öfter nach Istanbul kommen werde … Es gab aber noch einen weiteren Grund wiederzukommen. In der kommenden Saison wollte er die ›Kultstätte‹ besuchen, wo ein Europacupspiel stattfinden werde. Diese Faszination durfte man nicht vergessen, verpassen …
Allen dreien antwortete ich, so gut ich konnte. Ich bedankte mich, daß sie gekommen und einverstanden gewesen waren, jenes ›Spiel‹ – in jeder Bedeutung – noch einmal zu spielen. Das Ganze verpackte ich in möglichst frotzelnde, provokante, anspielungsreiche Sätze. Ich wollte das Vergnügen an dieser neuen Verbundenheit trotz der Entfernungen zwischen uns bis zum äußersten auskosten. In dieser Weise ging unser Briefwechsel noch eine Weile weiter. Natürlich mit immer größeren Abständen … Es gab für uns in unseren eigenen Städten andere
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