Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Findeis
Vom Netzwerk:
die Nacht in Sicherheit verbringen konnten. Vielleicht würde ich Maria vergessen können, wie ich meinen Vater vergessen hatte. Im letzten Licht betrachtete ich eine Limousine, die an einer Tiefgarage wartete. Ein Portier mit weißen Handschuhen versuchte das blockierte Tor zu öffnen, er fluchte, die Limousine versperrte den Gehweg und die Straße. Das Hupen des Verkehrs nahm zu. Ich ließ die Szenerie hinter mir, das Fluchen des Portiers hörte ich aber noch einen Block weiter. Er schimpfte, als ginge es um sein Leben.
    Kurz vor Mitternacht hörte ich ein Kind husten und glaubte an einen Traum. Nachdem ich mich umgesehen hatte im Zimmer, hörte ich es wieder. Durch den Spalt unter der Tür fiel der Schein der Leuchtstoffröhren, die die Nacht über im Flur brannten. Ich drehte mich zur Seite, zog mir die dünne Decke über den Kopf und hoffte, dass das Kind nicht im Zimmer nebenan wohnte. Es hustete mit der Ernsthaftigkeit und Geduld eines Erwachsenen, und ich war mir sicher, dass ich träumte. In der dritten Nacht, in der ich das Kind hörte, ging ich nachsehen. Der Schmutz, der Staub, die Haare ungezählter Vormieter auf dem ungesaugten Teppich blieben an meinen Fußsohlen hängen, als ich durch das Zimmer ging und die Kette zur Seite legte, die vier Schlösser entriegelte. Das Kind stand gegenüber dem Gang, in Unterhemd und Boxershorts, barfüßig auf dem Boden aus falschem Marmor. Es hielt sich eine Hand vor den Mund, hustete, sein Oberkörper bebte. Wie ein Kettenraucher, der Dauer und Intensität seines Hustens kennt, schien es unbeeindruckt von dem Anfall. Es betrachtete mich und hob entschuldigend seine freie Hand, in der es ein Taschentuch hielt. Ich wusste nicht, ob es von seinen Eltern vor die Tür geschickt worden oder ob es von allein nach draußen gegangen war, um sie nicht zu stören. Es hätte auch ein alter Mann sein können, den eine Krankheit in diesen kleinen, zierlichen Körper gesperrt hatte, dessen Schulterblätter unter der Haut hervorstachen, die so hell und fein war, dass sich auch zarteste Adern unter ihr abzeichneten.
    Excuse me, Sir, sagte der Kleine, nachdem er sich den Mund mit dem Taschentuch abgewischt hatte, seine Lippen waren blau. Ich hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Er drehte den Knauf der Tür und trat in das Zimmer, von den Leuchtstoffröhren des Flurs angeleuchtet, verharrte er kurz als Schemen, bevor er sie hinter sich schloss.
    Mein Vater sagt: Deine Mutter wäre stolz auf dich. Und dass sie mich vom Himmel droben beobachtet, als ich ihn nach dem Tod frage, was das ist, was Gott damit zu tun hat, warum ausgerechnet meine Mutter? Er weiß keine Antwort. Die Wege des Herrn sind unergründlich. Im Religionsunterricht glaube ich die Geschichten des Lehrers von der Güte und Weisheit des Vaters und des Sohnes nicht und will alles ganz genau wissen. Dem jungen Pfarrer beichte ich vor der Erstkommunion, dass ich Angst habe vor Gott, weil meine Mutter hat sterben müssen, als ich auf die Welt kam. Ich sitze ihm gegenüber in seinem Arbeitszimmer, das Fenster ist geschlossen trotz des Sommers und der Hitze, das Pendel einer Standuhr schwingt klackend, ich bekomme kaum Luft. Im Wohnzimmer unten wartet schon der nächste zukünftige Sünder.
    Der Herr will dich nicht strafen, er prüft euch, dich und deinen Vater, und wenn ihr stark bleibt im Glauben, wird er dich vereinen mit deiner Mutter für alle Ewigkeit im Himmelreich. Ich muss ihm glauben, bis ich aus der Tür des Pfarrhauses in den Frühsommertag trete und in die Sonne starre und durchscheinende Planeten kreisen sehe in Grün und Rot und Gelb vor meinen Augen.
    Als ich mich nach der Erstkommunion melde, Ministrant zu werden, hebt mein Vater eine Augenbraue und sagt: Deine Mutter wäre stolz auf dich.
    Und proben wir in der kalten, leeren Kirche die Gabenbereitung und spreche ich: Christus ist die Quelle für das ewige Leben! ist der Blick des jungen Pfarrers auf mich gerichtet, als habe er mich ertappt beim Lügen. In Straßenkleidung stehen wir vor dem Altar, er trägt ein gewöhnliches Hemd und Turnschuhe; in den Rillen der Sohlen stecken Kieselsteine, die auf dem steinernen Boden kratzen. Ich denke an die schönen Ministrantenalben, die bunten Kaseln, und verpasse meinen Einsatz. Vor meiner ersten Messe bekomme ich Mumps und werde ersetzt durch ein anderes Kind. Im Fieber frage ich meinen Vater – der Urlaub genommen hat, um sich um mich zu kümmern –, ob er für mich beten kann und eine Kerze

Weitere Kostenlose Bücher