Woerter durchfluten die Zeit
der klar war, dass an Lord Tennyson im Grunde nichts merkwürdig war. Jedes Kleinkind in England kannte ihn.
Miss Olive sah sie verständnislos an.
»Vergessen sie’s«, winkte Lucy eilig ab. »Ich hab zu wenig geschlafen, letzte Nacht.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Tennyson«, hörte sie Miss Olives Stimme. »Wer soll das sein? Ich habe noch nie von ihm gehört. Du musst mir das Buch zeigen. Ich könnte schwören, dass ich jedes Buch hier kenne.«
Lucys Drehstuhl schwenkte herum und sie sah Miss Olive fassungslos an.
Von allen Welten,
die der Mensch erschaffen hat,
ist die der Bücher die Gewaltigste.
Heinrich Heine
2. Kapitel
In der U-Bahn ließ Lucy sich seufzend auf einen der gepolsterten Sitze fallen. Ihre Tasche stellte sie neben sich. Dann beäugte sie die vielen unterschiedlichen Menschen, die mit ihr fuhren. Niemand schien sie zu beachten. Lucy atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche und ihrem Bett.
Noch nie, seit sie in London lebte, hatte sie Madame Moulin so sehr vermisst wie heute. Ihr ganzes Leben hatte sie in dem Heim verbracht. Jedenfalls den Teil ihres Lebens, an den sie sich erinnerte. Der Abschied vor einem halben Jahr war ihr schwergefallen.
Obwohl Madame Moulin mit persönlichen Liebesbezeugungen zu den ihr anvertrauten Kindern sparsam war, wusste Lucy immer, dass sie sie besonders ins Herz geschlossen hatte. Sie hatte sich jede noch so abstruse Geschichte angehört, die Lucys kindlicher Fantasie entsprungen war.
Wie gern würde sie Madame Moulin jetzt von dem merkwürdigen Vorfall berichten. Denn dass Miss Olive den englischen Nationaldichter Lord Alfred Tennyson nicht kannte, war wirklich seltsam. Sogar mehr als das: Es war einfach unmöglich.
«Next Station Covent Garden«, tönte es durch die Bahn. Lucy stand auf und trat hinaus.
Zielstrebig ging sie die Straße entlang zu ihrem Zuhause, das sie sich in dem gleichnamigen Londoner Stadtteil mit Marie und Jules teilte.
In dem halben Jahr, das sie jetzt in London lebte, waren Jules und Marie ihre besten Freundinnen geworden. Lucy war erleichtert gewesen, dass sich die beiden als so unkomplizierte Mitbewohnerinnen herausgestellt hatten. Ansonsten hätte sie sich auf die Suche nach einer neuen Bleibe machen müssen und das war in einer Stadt wie London beinahe aussichtslos. Zwar bekam sie für ihr Studium am King’s College ein Stipendium, doch das wurde durch die hohe Zimmermiete beinahe aufgebraucht. Deshalb hatte Madame Moulin ihr auch den Job besorgt. Lucy hatte es kaum glauben können, als sie ihr eröffnet hatte, dass sie während ihres Studiums in der London Library arbeiten durfte. Jetzt fragte sie sich, ob die Arbeit eher Fluch oder Segen war.
Lucy erreichte ihre Straße. Alte, hohe Häuser streckten sich in den grauen Himmel. Der Duft von frischem Kuchen stieg ihr in die Nase und wie auf Kommando fing ihr Magen an zu knurren. Vor lauter Aufregung hatte Lucy die Nudeln heute Mittag kaum hinunterbekommen. Nun machte sich das bemerkbar. Ohne lange nachzudenken, betrat sie die Starbucks-Filiale an der Ecke und kaufte ein paar der verführerisch duftenden Gebäckstücke.
Vor ihrer Tür angekommen drückte sie auf die Klingel. Ihr Wohnungsschlüssel schlummerte in den Tiefen ihrer Tasche, denn sie war sich sicher, dass Jules zu Hause war.
Kurz darauf summte der Türöffner und Lucy trat ein. Ein schlaksiges Mädchen mit kurzem, braunem Haar, das in alle Himmelsrichtungen abstand, streckte den Kopf zur Wohnungstür heraus, als sie die Treppe heraufkam.
»Ich warte schon auf dich. Ich wusste nicht, wann du Schluss hast.«
»Ich konnte ein bisschen früher gehen«, erklärte Lucy.
»Magst du Tee?«, fragte Jules und wandte sich der Küchentür zu.
Lucy schüttelte den Kopf. »Ein Kaffee wäre gut. Ich habe Kuchen mitgebracht.« Wie eine Trophäe zog sie die Tüte aus ihrer Tasche.
»Soll mir recht sein«, antwortete Jules. »Ich setze Wasser auf. Was ist mit Marie? Kommt sie auch?«
Lucy streifte ihre Schuhe von den Füßen und hängte ihre Jacke an der Flurgarderobe auf.
»Ich glaube nicht«, rief sie. »Chris lungerte schon vor der Bibliothek herum, als ich ging.«
Sie ging in ihr Zimmer, um ihre Tasche abzustellen.
Der Raum hatte grüne Wände, ein Bett und eine Kommode. Ein Schreibtisch aus weißem Holz stand unter dem Fenster. Lucy warf ihre Tasche auf einen verblichenen Sessel, der Lucys unangefochtenes Lieblingsmöbelstück
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