Wofür es sich zu leben lohnt
gewordene Formel bringt die Misere der Subjekte zeitgenössischer Überflussgesellschaften in drastischer Weise auf den Punkt. Würde durch die Generierung und Vermehrung unerfüllbarer Wünsche nicht spürbar mehr Unzufriedenheit erzeugt, müsste man wohl sagen, dass sie eine geradezu tröstende Funktion zu erfüllen scheint: Denn sie übt uns ein in die durch die neoliberalen Beraubungen notwendig gewordene neue Gewohnheit, uns auch erreichbare Glücksmöglichkeiten als unerreichbar vorzustellen.
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Von Mahatma Gandhi stammt der schöne Satz: »There is enough for everybody’s need, but not enough for anybody’s greed«. [27] In diesem Insistieren auf der Erfüllbarkeit der Bedürfnisse und Wünsche zeigt sich Gandhi als würdiger Nachfahre des Philosophen Epikur, der lehrte, dass das, was für die menschliche Lust notwendig ist, für alle Menschen auch jederzeit leicht zu beschaffen ist. [28] Die Verfolgung der Lust hatte für Epikur dementsprechend zwei Seiten. Einerseits bestand sie in der Kritik jener »Einbildungen«, »haltlosen Ansichten« und »Wahnvorstellungen«, [29] durch die die Menschen sich ihr bestehendes Glück verderben, indem sie unerfüllbaren Chimären und illusorischen Standards gierig nachjagen: »Was vorhanden ist, sollen wir uns nicht verderben durch das Verlangen nach anderem, das nicht vorhanden ist.« [30] Andererseits erinnerte Epikur eben daran, dass wir das, was wir wirklich wollen, auch bekommen können. Sein Satz »Wem weniges nicht genug ist, dem ist nichts genug« [31] darf darum nicht bloß als Programm einer asketischen Selbstbeschränkung oder eines weltvergessenen Aussteigertums verstanden werden. Es ist eine Kampfansage an die Einbildungen, aber zugleich auch an jene Verhältnisse, welche den Menschen die erreichbaren materiellen Lustbedingungen versperren. So genügsam man darum, Epikur zufolge, in Bezug auf die Einbildungen werden muss, so wenig genügsam darf man andererseits in Bezug auf die Verhältnisse sein. Und in seiner hohen Wertschätzung der Freundschaft [32] erkannte Epikur die Tatsache an, dass die Lust unter Bedingungen der Geselligkeit steht. Wenn Epikur also die »Lust des Bauches« zum Ur- und Vorbild auch der »weisen und überfliegenden« Lüste erklärt, [33] dann bedeutet das nicht, dass diese Lust nur von Brot, Fisch oder einem Stück Käse (den Beispielen Epikurs) abhängt. Man will auch in angenehmer Gesellschaft essen, sonst hat man kaum Appetit. »Jetzt wird gegessen«, dieser soziale Imperativ zur rituellen Unterbrechung des Arbeitstages ist sogar für die bloße Nahrungsaufnahme notwendig, um sie für Menschen zu etwas Lustvollem zu gestalten. [34] Wenn viele Lüste durch Verbannung aus der Öffentlichkeit diese feierliche Dimension verlieren, werden sie den Menschen darum entweder unzugänglich oder nicht mehr als lustvoll erfahrbar. Das Beharren auf den »natürlichen« Bedürfnissen im Sinn von Epikur [35] macht darum den Kampf um diese Dimension der Öffentlichkeit erforderlich. Nicht nur gutes Brot oder die sogenannten »Gebrauchswerte« müssen erkämpft werden, sondern vor allem auch jene Bedingungen von Sozialität, an denen die Gründe hängen, für die es sich zu leben lohnt. Das eine gibt es nicht ohne das andere. [36]
Der Umstand, dass Öffentlichkeit zugleich, wie wir gezeigt haben, eine Sphäre des »als ob« ist, erklärt andererseits, weshalb die Lüste leicht zu beschaffen sind: Wir müssen nicht wirklich aussehen wie Faye Dunaway oder Steve McQueen, und wir müssen nicht trinken, bis wir halbtot umfallen. Um eine Menge Freude zu haben, genügt es vielmehr, wenn wir – wie Brechts Tahitireisende auf dem Kanapee – eine Weile lang bloß so tun als ob.
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Immanuel Kant hat einen Gedanken entwickelt, der ihm oder anderen Menschen helfen sollte, sinnliche Neigungen nicht für unwiderstehlich zu halten: »Wäre ich bereit, mich dafür hängen zu lassen?« – dieser Frage oder besser gesagt: dieser »Galgenprobe« unterzog Kant alles, was sich als absolute Notwendigkeit von Leidenschaft aufzudrängen schien. Ob diese Probe als theoretisches Kriterium geeignet ist, jegliche Leidenschaft als geringer und mithin schwächer als den Gedanken an die Pflicht einzustufen, wie Kant beabsichtigte, ist eine andere Frage. (Jacques Lacan hat darauf geantwortet, dass Libertinage im Sinn des Marquis de Sade genau darin besteht, Leidenschaften zu einer solchen Stärke zu kultivieren, dass man sogar bereit wäre, sich für sie hängen
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