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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Afghanistan
    Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass sie wirklich weggeht.
    Wenn man als Zehnjähriger abends einschläft, an einem ganz normalen Abend, der auch nicht dunkler, sternenklarer, stiller oder übel riechender ist als andere; an einem Abend, an dem dieselben Muezzin von den Minaretten zum Gebet rufen wie immer; wenn man als Zehnjähriger – und das ist nur so dahingesagt, weil ich gar nicht genau weiß, wann ich geboren bin, denn in der Provinz Ghazni gibt es kein Geburtenregister – also, wenn man als Zehnjähriger einschläft, und deine Mutter drückt deinen Kopf vor dem Schlafengehen länger an ihre Brust als sonst und sagt:
    Drei Dinge darfst du nie im Leben tun, Enaiat jan , niemals, versprich es mir.
    Erstens: Drogen nehmen. Manche duften und schmecken gut, und wenn sie dir vorgaukeln, mit ihnen ginge es dir besser als ohne, hör nicht auf sie, versprich es mir!
    Versprochen.
    Zweitens: Waffen benutzen. Auch wenn jemand dich oder deine Ehre beleidigt, versprich mir, dass deine Hand niemals zu einer Pistole, einem Messer, einem Stein, ja nicht einmal zu einem Holzlöffel greifen wird, wenn dieser Holzlöffel dazu dient, einen Menschen zu verletzen. Versprich es mir!
    Versprochen.
    Drittens: Stehlen. Was dir gehört, gehört dir. Was dir nicht gehört, nicht. Das Geld, das du zum Leben brauchst, wirst du dir erarbeiten, auch wenn es mühsam ist. Du wirst niemanden betrügen, Enaiat jan , versprochen? Du wirst allen gastfreundlich und großzügig begegnen. Versprich es mir!
    Versprochen.
    Also, auch wenn deine Mutter solche Sachen zu dir sagt, anschließend zum Fenster schaut und anfängt, von Träumen zu reden, und dich dabei ununterbrochen liebkost – wenn sie von Träumen spricht wie dem Mond, in dessen Schein man abends essen kann, und von Wünschen. Davon, dass man immer einen Wunsch vor Augen haben soll, wie ein Esel eine Karotte, und dass uns erst der Wille, unsere Wünsche wahr zu machen, die Kraft gibt, morgens aufzustehen, ja, dass es das Leben lebenswert macht, wenn man nur immer schön seinen Wunsch im Kopf behält. Also, auch wenn dir deine Mutter beim Einschlafen solche Dinge sagt, mit einer leisen, sonderbaren Stimme, die dir die Hände wärmt wie Kohlenglut, wenn sie also damit die Stille füllt, ausgerechnet sie, die stets nüchtern und wortkarg war – selbst dann fällt es dir schwer zu glauben, dass ihre Worte khoda negahdar bedeuten: Lebewohl.
    Einfach so, aus heiterem Himmel.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, reckte und streckte ich mich und suchte rechts neben mir nach dem vertrauten Körper meiner Mutter. Nach dem beruhigenden Duft ihrer Haut, der für mich so etwas bedeutete wie: Los, wach auf, steh auf! Aber meine Hand griff ins Leere, und ich bekam nur das weiße Baumwolllaken zu fassen. Ich zog es an mich, drehte mich um und riss die Augen auf. Ich setzte mich auf und rief nach meiner Mutter. Aber weder sie noch sonst irgendjemand hat mir geantwortet. Sie war in dem Zimmer, in dem wir übernachtet hatten und das noch warm war von den sich im Dämmerlicht regenden Leibern. Sie war nicht an der Tür und nicht am Fenster, um auf die von Autos, Lastwagen und Fahrrädern befahrene Straße zu schauen. Sie war auch nicht bei den Wasserkrügen oder in der Raucherecke, um sich, wie sie es in den letzten drei Tagen gemacht hatte, mit jemandem zu unterhalten.
    Von draußen drang der Lärm von Quetta herein, der sehr viel lauter ist als der in meinem kleinen Heimatdorf, einem Fleckchen Erde voller Häuser und Bäche in der Provinz Ghazni. Für mich ist das der schönste Ort der Welt, und das sage ich jetzt nicht nur, um damit anzugeben, sondern weil es wahr ist.
    Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es die Größe der Stadt war, die diesen Lärm verursachte. Ich dachte, es handelte sich um ganz normale Nationalitätsunterschiede wie die Art, das Fleisch zu würzen. Ich dachte, der Lärm in Pakistan wäre anders als der in Afghanistan, und dass jedes Land seinen eigenen Lärm hat, der von allem Möglichen abhängt. Zum Beispiel davon, was die Leute essen und wie sie sich fortbewegen.
    Mama!, rief ich. Mama!
    Keine Reaktion. Also schob ich die Decke weg, zog meine Schuhe an, rieb mir die Augen und suchte nach dem Besitzer der Unterkunft, der hier das Sagen hatte, um ihn zu fragen, ob er meine Mutter gesehen hätte. Schließlich hatte er uns gleich nach unserer Ankunft vor drei Tagen mitgeteilt, dass niemand seine Herberge betrete oder verlasse, ohne dass er etwas davon

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