Wofür es sich zu leben lohnt
Nietzsche [ 1887 ]). Die kritische Arbeit am
Ressentiment
, dem Hass auf das Glück, ist darum, Nietzsche zufolge, die entscheidende Leistung, die erbracht werden muss, damit jemals ein Glück erobert werden kann; [77] damit also die Schwachen nicht beginnen, sich in ihrer Schwäche oder in ihrem Scheitern zu gefallen, und man sich den eigenen Beuteverzicht nicht zur kritischen Gesinnung zurechtfabelt.
5 . Muss man mit dem Glück vorsichtig sein?
Der Narzissmus unterhält ein problematisches Verhältnis zum Glück. Er besitzt, wie Richard Sennett feststellt,
»die doppelte Eigenschaft, die Versenkung in die Bedürfnisse des Selbst zu verstärken und zugleich ihre Erfüllung zu blockieren«
(Sennett [ 1974 ]: 22 ). Dieses problematische Verhältnis zum Glück äußert sich auch in einer Reihe von Ansichten über dieses. Darin wird, wie es für den narzisstischen Mechanismus der Projektion charakteristisch ist, das eigene problematische Verhältnis zum Gegenstand diesem Gegenstand selbst als dessen Eigenschaft zugeschrieben. Nicht man selbst hat ein Problem mit dem Glück und steht ihm reserviert gegenüber, sondern der Gegenstand ist äußerst problematisch, und man darf ihm, wenn man ihn überhaupt erreichen will, nur sehr vorsichtig, unter Beachtung erheblicher Schikanen, nahekommen. Diese Auffassung ist die Grundlage der gegenwärtig auffallend häufig anzutreffenden Philosophien der
Glücksvorsicht
.
So kann man zum Beispiel oft die Ansicht lesen oder hören, dass ein wenig Unglück notwendig sei, damit man überhaupt Glück empfinden könne. Man könne nicht dauernd glücklich sein, sondern brauche ab und zu etwas Unglück – sozusagen als Kontrastfolie, um für sein Glück nicht blind zu sein. [78] In unmittelbarer Nachbarschaft dieses fragwürdigen Theorems tritt meist noch ein zweites auf, nämlich die These, dass das Glück nicht direkt erstrebbar sei. Denn »das Erstreben selbst vernichtet den Glückswert des Erstrebten« (Hartmann 1976 : 96 ). Niemand könne das Glück erreichen, indem er direkt darauf zusteuert; man müsse zunächst sogar absichtlich danebenzielen. [79]
Mit solchen Ansichten machen Leute es heutzutage sich und anderen schwer im Umgang mit dem Glück. Für sie gilt, was der Philosoph Hegel in Bezug auf die ähnlich gearteten Philosophien der Erkenntnisvorsicht feststellte, nämlich dass die für sie typische Furcht, zu irren, schon der Irrtum selbst ist. Im Fall der Glücksvorsichtigen bildet die Furcht, das Glück zu verfehlen (samt allen Vorsichtsmaßnahmen, die dagegen ergriffen werden), diese Verfehlung selbst. Man könnte sogar oft meinen, dass das Unglück, in dem sie sich selbst auf diese Weise gefangenhalten, ein ganz besonderes Glück sein muss, wenn sie doch solche Anstalten machen, um in den Besitz dieses Unglücks zu gelangen und es zu behalten. Dieses merkwürdig verkehrte »Glück im Unglück«, das seine Besitzer selten froh macht und von ihnen doch angesteuert und gehütet wird wie ein kostbarer Schatz, ist heute ein weit verbreitetes Prestigeobjekt unter neurotisch Glücksfürchtigen, wie sie in letzter Zeit insbesondere in der Kunst gehäuft auftreten. Selbst die kürzlich in Zürich unter dem Patronat des Cabaret Voltaire veranstaltete Gründung der ›Gesellschaft des Glücks der Verfehlung‹ [80] ist vielleicht nur um Haaresbreite (oder mit etwas Glück) an einer solchen Position vorbeigeschrammt.
Dabei lassen sich die Argumente der Glücksfurcht leicht widerlegen. Zu behaupten, man müsse Unglück haben, um das Glück empfinden zu können, ist genauso unsinnig, wie wenn man sagen würde, der Schäfer muss einige schwarze Schafe in seiner Herde haben, damit er die weißen erkennen kann. Denn das Spezifische einer einzelnen Empfindung erfahren wir, indem wir sie in einer gedanklichen Operation (die wir immer, und selten bewusst, vollziehen) zu einer Skala aller möglichen Empfindungen in Beziehung setzen; und nicht etwa sinnlich zu einer anderen, wirklichen, einzelnen Empfindung. Um zu wissen, dass Rot Rot ist, müssen wir nicht immer wieder daneben Grün sehen. [81] Was allerdings notwendig ist, damit Glück auf längere Dauer als Glück erfahren werden kann, ist Stimulation, Herausforderung durch ein Ideal. Denn gerade das Erstreben des Glücks macht nämlich bereits glücklich; [82] allerdings bemerken wir das meist erst danach, d.h. wenn wir das Glück erreicht haben – und dann kommen wir uns oft schon nicht mehr ganz so glücklich vor, wie wir meinen,
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